Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
kocht, wenn ich nur daran denke, wie sich die Hexe hier eingeschlichen hat, indem sie die unschuldige Jungfrau markiert hat.«
»Denke das gar nicht erst«, riet Anna ihrer Freundin flüsternd.
Aber Felicia konnte ihr Temperament nicht zügeln. »Lieber hätte ich Miss Agatha zurück.«
»Aber Miss Charmaine ist doch gar nicht so übel. Ich glaube, du bist nur eifersüchtig.«
»Worauf denn? Etwa auf ihren dicken Bauch? Das Baby war sicher schon drin, als sie sich John geschnappt hat.«
»Wie kannst du das sagen, Felicia? Wir haben doch beide die verfleckten Laken gesehen!«
»Und wenn sie sich nur geschnitten hat, um den armen John und uns alle an der Nase herumzuführen? Siehst du denn nicht, wie dick sie schon ist? Wenn Paul sie nicht mehr ansehen mag, kommt er sowieso wieder zu mir.«
Paul hatte genug gehört. Er stürmte nach nebenan und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Anne quietschte. »Master Paul!«
Felicia wich vor Pauls wütendem Blick zurück. »Pack sofort deine Sachen!«, herrschte er sie an. »Du bleibst keine Nacht mehr unter diesem Dach!«
»Aber wohin soll ich denn gehen?«
»Deine Eltern leben doch auf Charmantes, nicht wahr? Die nehmen dich ja vielleicht wieder auf. Oder Dulcie erbarmt sich deiner. Diese Art Arbeit liegt dir sowieso besser.«
Felicia wurde knallrot und rannte aus dem Zimmer.
Als Paul sich zu Anna umdrehte, wich sie unwillkürlich zwei Schritte zurück. »Sir, ihr Gerede war mir oft zuwider«, jammerte sie.
»Davon kannst du mich gern überzeugen. Ich will nicht hören, dass Miss Charmaine dich noch ein einziges Mal ermahnen muss. Über sie wird nicht geredet. Ist das klar?«
»Ja, Sir«, murmelte das Mädchen kleinlaut, bevor sie knickste und davonrannte.
Dienstag, 11. September 1838
Paul war zufällig in der Stadt, als laute Rufe das Nahen eines Seglers ankündigten, und er wartete schon am Kai, als Matt Williams die Destiny an ihren üblichen Liegeplatz steuerte. Kaum dass die Leinen befestigt waren, stürmte er an Bord. »Welche Neuigkeiten bringen Sie uns, Matt? Müssten Sie nicht eigentlich in Johns Auftrag in Virginia Tabak laden?«
»So lautete mein ursprünglicher Auftrag, aber Stuart Simons lässt ausrichten, dass Ihr Vater und John ihre Pläne geändert haben. Sie ließen sich von der Raven nach New York bringen und haben mich beauftragt, diese beiden Briefe hierherzubringen.« Er übergab Paul zwei Umschläge, die in Johns Krakelschrift adressiert waren. »Ich habe nur die halbe Ladung Tabak an Bord genommen. John war der Meinung, dass wir unseren Preis halten könnten, wenn wir noch zusätzlich Melasse laden.«
»Gönnen Sie sich fürs Erste eine Pause, Matt«, sagte Paul. »Das Laden besorgen wir morgen. Dann können Sie übermorgen wieder Segel setzen.«
Matt nickte und informierte sofort seine Matrosen. Jubel brandete auf, und anschließend wurden die nötigen Arbeiten in großer Eile erledigt, weil die Männer den freien Nachmittag im Dulcie’s kaum erwarten konnten.
Paul zog sich in die Kajüte des Kapitäns zurück und las seinen Brief. Als er danach den anderen in der Hand wog, der an Charmaine adressiert war, änderte er plötzlich seine Arbeitspläne für den Nachmittag.
Charmaine saß auf der Schaukel und lauschte den Stimmen der Mädchen. Das Wetter war so wunderbar mild und schön, dass sie vorgeschlagen hatte, die Geschichte im Schatten des Eichbaums zu Ende zu lesen. Sie war überrascht, als Paul auf Alabaster durchs Tor ritt und auf sie zuhielt.
Rasch sprang er vom Pferd und versteckte die Hände hinter dem Rücken. »Rechts oder links?« Unschlüssig wählte sie die rechte Hand, aber als nichts darin war, präsentierte Paul sofort die linke und lächelte. »Eine kleine Überraschung.«
Charmaine seufzte vor Erleichterung, als sie Johns Handschrift erkannte. Dann drehte sie den Umschlag um und löste vorsichtig das Siegel.
»Ist er von Johnny?«, fragte Jeannette.
Yvette wollte wissen: »Was steht denn drin?«
Paul legte den Finger auf die Lippen und bedeutete seinen Schwestern, ihm zu folgen. Ohne Widerworte gehorchten sie und führten Alabaster zum Stall hinüber. »Gönnt Charmaine diesen Moment. Sie hat ein bisschen Glück verdient.«
Die Mädchen lächelten zu ihm auf.
»In meinem Brief hat John auch ein paar Worte an euch gerichtet.«
»Wirklich?«, riefen beide wie aus einem Mund. »Und was?«
»Er schreibt, dass er euch vermisst und möglichst bald nach Hause kommen will.«
»Mehr nicht?« Yvette war
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