Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
sagst Paul zu ihm?«
Misstrauisch sah Rebecca die Frau an. Sie mochte sie nicht. Obwohl Felicia ihre Freundschaft suchte, seit sie wieder bei den Eltern im Nachbarhaus eingezogen war. Sicher war ihr Bruder der Grund dafür, dachte Rebecca. Wade sah nun einmal gut aus. Dabei duldete sie die Besuche nur, weil Felicia sich als unerschöpfliche Quelle erwies, was Geschichten über Paul und das Herrenhaus anging. Sie hatte erfahren, dass Felicia den Dienst gekündigt hatte, weil sie Johns Frau nicht ausstehen konnte. Eine Schlampe, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht war und während der Abwesenheit ihres Mannes Paul verführen wollte. »Ich konnte dem Treiben nicht länger zusehen. Armer John.«
Armer Paul , dachte Rebecca.
Felicia schnalzte mit der Zunge. »Wie mir scheint, gefällt dir Paul. Habe ich recht?«
»Ich werde ihn heiraten.«
Felicia klappte vor Staunen der Unterkiefer herunter, bis sie begriff, dass Rebecca es ernst meinte. Sie wartete noch einen Moment, aber als sich Wade nicht blicken ließ, wünschte sie Rebecca viel Glück und verschwand mit einem anzüglichen Lachen.
Rebecca strich den Auftritt der Nachbarin aus ihrem Gedächtnis und gab sich lieber wieder ihren Träumereien hin. Sie stellte sich Pauls kräftige Hände vor, seine Arme, die sie einfach in die Höhe hoben … Sie war allein, und ihr Bruder schlief tief und fest. Wie in Trance ging sie in ihr Schlafzimmer und schloss mit klopfendem Herzen die Tür.
Freitag, 28. September 1838
Yvette und Jeannettes zehnter Geburtstag dämmerte herauf und versprach strahlend schön und warm zu werden. Trotzdem stand Charmaine missgestimmt auf. Mit schwerem Herzen dachte sie an das vergangene Jahr und fragte sich, wo John gerade war und wie es ihm ging. Ob er wusste, welcher Tag heute war? Dachte er auch an ihr wundervolles Picknick, das gerade ein Jahr zurücklag?
Selbst die Zwillinge wirkten bedrückt und fragten nicht einmal nach Geschenken. George und Mercedes erwarteten sie bereits am Frühstückstisch. »Was sind denn das für traurige Mienen?«, wunderte sich George. »Am Geburtstag muss man doch fröhlich sein!«
»Uns ist nicht nach Feiern zumute«, brummelte Yvette. »Jedenfalls nicht ohne Johnny!«
»Ist das wahr? Mercedes und ich dachten eigentlich, dass ihr die neuen Sättel und das Zaumzeug ausprobieren wolltet, die Paul für die Ponys gekauft hat.« George grinste, als die Traurigkeit der beiden schnell verflog. »Ja, genau. Mercedes hat die Sachen bestellt, und ich habe mir den heutigen Tag für euch frei genommen.«
Ein erstes Glücksgefühl spiegelte sich in den Augen der Mädchen, und kurze Zeit später waren sie bereits unterwegs. Da Charmaine ihnen nicht Gesellschaft leisten konnte, setzte sie sich zu Rose auf die Veranda und dachte an John. Morgen würde er zusammen mit seinem Vater seinen Geburtstag begehen …
Montag, 1. Oktober 1838
Aus den Tagen wurden Wochen. Frederic und Father Michael suchten die Postämter und Hafenbüros auf und durchkämmten endlose Register und Einwandererlisten nach dem Namen Blackford. Und das, obgleich ihnen der gesunde Menschenverstand sagte, dass der Mann vermutlich seinen Namen geändert hatte. Aber da sie nicht sicher sein konnten und nichts in der Hand hatten, waren sie versucht, jeden Blackford, Black oder Ford und am liebsten auch noch jeden Smith, Jones oder Brown zu verfolgen, der ihnen in die Finger geriet. Frederic machte seinen Einfluss bei den Inhabern der Schifffahrtsunternehmen geltend, um ihre Passagierlisten einsehen zu dürfen. Aber in den letzten Wochen hatte kein Blackford New York verlassen. In den Postämtern dagegen waren zwar eine Menge Blackfords, Blacks und Fords bekannt, aber ohne genaue Adressen konnten sie nur ungefähr die Gegend ermitteln, wo diese Personen wohnten. Frederic und Michael verbrachten zahllose Stunden auf den zentralen Plätzen der Stadt oder wanderten durch die Straßen, in der Hoffnung, zufällig auf den flüchtigen Doktor zu stoßen. Sie gingen auch den allerkleinsten Hinweisen nach und warteten manchmal einen ganzen Tag, bis der Bewohner erschien, um danach enttäuscht nach Hause zurückzukehren.
John trieb sich in der Kleidung eines gewöhnlichen Hafenarbeiters auf Kais und Werften herum, oder er besuchte die Handelsvertretungen und die Textilfabriken auf der East Side, unterhielt sich mit den Arbeitern und hörte sich in allen Tavernen und auch in übel beleumundeten Häusern um. Er fragte sogar Passanten, ob sie einen Mann gesehen
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