Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
hatten, auf den Blackfords Beschreibung passte, oder ob sie jemanden mit diesem oder ähnlich klingendem Namen kannten. Er erkundigte sich auch bei den örtlichen Ärzten nach Kollegen mit den Namen Black, Ford, Smith oder Brown. Dabei durchstreifte er sowohl die besseren Viertel mit Stadthäusern aus Backstein als auch die ärmeren Quartiere südlich der Wall Street.
John mochte die verschiedenen Gesichter dieser Stadt: die Immigranten, die den Schiffen entstiegen, die Arbeiter in den Fabriken oder die Hafenarbeiter, die nach zwölf Stunden harter Arbeit zum Dinner nach Hause gingen. Er sah Kinder in den Straßen spielen und beobachtete deren Mütter, die die Wäsche in hölzernen Zubern wuschen und im Hof zum Trocknen aufhängten. New York war der Traum all dieser Menschen, und er genoss das Leben in ihrer Mitte, obgleich ihn das Schicksal sehr viel mehr begünstigt hatte als sie. Alle arbeiteten mit großem Fleiß, nachdem sie sich aus der chancenlosen Existenz in der Heimat befreit hatten, und John war überzeugt, dass die Stadt einst zu den Juwelen in der Krone des Landes gehören würde. Außerdem war New York durch den Erie-Kanal ein Tor zum Westen und zog Händler magnetisch an.
An diesem Abend saß John an seinem Pult und schrieb an Charmaine. In der Eile des Aufbruchs hatte er ihr nicht einmal seine Adresse hinterlassen. George kannte sie zwar, aber John wollte sichergehen, dass Charmaine sie ebenfalls besaß. Es war die reinste Ironie, dass sein Vater heute hier in seinem Haus saß. Bisher hatte er seine Adresse immer wie ein Geheimnis gehütet, um eines Tages mit den Kindern und Charmaine ein neues Leben beginnen zu können. Hier in New York hätte sie niemand aufgespürt. Nicht einmal Frederic. Im vergangenen Jahr hatte sich George auf der Suche nach ihm viele Wochen in den Büros der Duvoisins herumgetrieben, bis John eines Tages zufällig vorbeigekommen war.
Seit seinem letzten Brief an Charmaine war inzwischen ein ganzer Monat ins Land gegangen. Den nächsten hatte er von Tag zu Tag hinausgezögert, in der Hoffnung, ermutigende Neuigkeiten berichten zu können. Zumindest konnte er ihr schreiben, dass sie inzwischen einen Blackford nach dem anderen ermittelt und ausgeschlossen hatten. Außerdem war er unruhig und freute sich auf Neuigkeiten aus Charmantes. Gleich morgen wollte er den Brief zusammen mit der übrigen Post nach Richmond auf den Weg bringen, damit Stuart ihn dem nächsten Segler der Duvoisins nach Charmantes übergab.
Im Wohnraum war es kühl geworden. Er stand auf, um neue Scheite in die Glut zu schieben. Dabei stoben die Funken wie kleine Feuerwerke empor. Michael und Frederic hatten es sich in den Sesseln zu beiden Seiten des Kamins bequem gemacht.
In der Stille beobachtete Frederic seinen Sohn, der schon den ganzen Tag über sehr nachdenklich schien. Vor einem Jahr war Pierre gestorben, und ganz offensichtlich war John in Gedanken bei ihm.
Sein Blick wanderte zu einer kleinen Zeichnung am Sims, auf der fünf Personen am Strand abgebildet waren. Ich habe Mama und Pierre umarmt und geküsst, wie du gesagt hast, hatte Jeannette daruntergeschrieben. Unwillkürlich musste Frederic an Yvettes Zeichnung im Stadthaus denken und neigte bekümmert den Kopf.
»All die leeren Häuser, John … in Richmond und auch hier. Niemand wohnt hier …«
Michael sah von seiner Bibel auf, und John drehte sich vom Kamin zu seinem Vater um. »Ich bin häufig in Richmond und auch in New York, Vater, und ich wohne lieber in einem Haus als in einem Hotel.« Er wunderte sich, was seinen Vater auf diese Gedanken gebracht hatte.
»Du wolltest sie hierherbringen, nicht wahr? Hast immer gehofft, eines Tages hier mit ihnen leben zu können?«
Michael erhob sich, um sich zurückzuziehen.
»Bleiben Sie ruhig hier, Michael.« John sah seinen Vater an und staunte über seinen Scharfsinn. Er lehnte sich gegen den Sims und starrte in die Flammen. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er seinen Vater und ahnte das tiefe Bedauern, das dieser Mann mit sich herumtrug. Wenn er die Zeit bis zu dem verhängnisvollen Tag vor fünf Jahren zurückdrehen könnte, dem Tag ihres Streits, an dem er den Anfall erlitten hatte, würde er Colette freigeben, damit sie weiterlebte. Mit einem Mal wurde ihm alles klar. Frederic hatte Colette nicht bei sich haben wollen, um ihn zu strafen oder Rache zu üben … Er hatte sie bei sich haben wollen, weil er sie liebte und es nicht ertragen hätte, sie gehen zu lassen. Inzwischen jedoch
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