Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Limonade. Mit leuchtenden Augen setzte sie sich zu Loretta aufs Sofa und konnte noch immer nicht ganz glauben, dass die beiden wirklich hier waren. »Was hat Sie denn nach Charmantes geführt?«
»Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht«, begann Loretta und sah zu den Mädchen hinüber.
Charmaine verstand den Hinweis. »Da wir unverhofft Gäste haben, sollten wir den Unterricht für heute ausfallen lassen, nicht wahr?«
Die Zwillinge waren nur zu gern damit einverstanden. »Dürfen wir in den Stall und die Ponys pflegen?«, fragte Jeannette, und als Charmaine nickte, liefen die Mädchen überglücklich davon.
»Sie lieben Sie sehr«, bemerkte Loretta, als die beiden draußen waren.
»Und ich sie genauso«, flüsterte Charmaine. »Oh, ich kann es immer noch nicht glauben! Ich bin so froh, dass Sie hier sind! Hat Gwendolyn Sie begleitet? Besucht sie ihre Eltern?«
»Nein, nein. Sie ist bei unserem Hausdiener in Richmond geblieben. Damit Cal sich nicht so allein fühlt, wie sie sagt. Aber der wahre Grund ist natürlich Mr Elliot. Er macht ihr seit einiger Zeit eifrig den Hof.«
Charmaine musste kichern, als sie sich die Romanze vorstellte.
»Geht es Ihnen wirklich gut?« Loretta beugte sich ein wenig vor und tätschelte Charmaines Hand.
Der besorgte Unterton war nicht zu überhören. »Zu Beginn meiner Schwangerschaft war mir immer übel, aber das ist inzwischen vorbei.«
Erleichtert sahen Joshua und Loretta einander an.
»Joshua hat John in Richmond getroffen«, bemerkte Loretta.
»Ja, das weiß ich. John hat mir geschrieben, dass Sie sich in der Bank getroffen haben.« Sie sah Joshua an und dann zu seiner Frau und bemerkte den Blick, den die beiden wechselten. »Es geht mir wirklich gut, Mrs Harrington. Ich habe keine Ahnung, was Sie gehört haben, aber es geht mir bestens.«
»Und sind Sie auch glücklich?«, fragte Joshua noch einmal nachdrücklich.
Charmaine neigte den Kopf und versuchte, in seinen Augen zu lesen. »Ja, ich bin glücklich …«
»Aber?«, fragte Loretta.
»Aber ich vermisse meinen Mann«, hauchte Charmaine.
»Und Sie sind wirklich nur wegen Ihrer Übelkeit nicht mit nach Richmond gefahren?«
»Das war nicht der einzige Grund«, räumte Charmaine ein. »Außerdem ist John gar nicht mehr dort. Er ist inzwischen nach New York weitergereist.«
Loretta wollte die junge Frau wahrlich nicht beunruhigen, aber sie war entschlossen, die dummen Gerüchte ein für alle Mal aufzuklären. »In Richmond wird über Ihre hastige und völlig überraschende Hochzeit mit Mr Duvoisin getuschelt.«
Charmaine wurde ärgerlich. »Und was sagen die Leute?«
»Es geht nicht darum, was sie sagen, sondern was sie andeuten. Ich sage es nicht gern, aber hinter jedem Gerücht lauert oft ein Stück Wahrheit.« Als Charmaine schwieg, sprach sie weiter. »Hat man Sie gezwungen, diesen Mann zu heiraten?«
»Aber nein!« Charmaine war sprachlos. Offenbar hatten die Gerüchte die Harringtons hierhergetrieben. »Ich habe mir John doch ausgesucht! Er ist meine große Liebe.«
Loretta war mit der begeisterten Antwort zufrieden, aber nicht so ihr Ehemann. »Warum lässt er Sie dann ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit allein?«
Charmaine sah auf ihre Hände hinunter, die sie auf dem Schoß gefaltet hatte. »Vor einem Monat ist hier etwas ganz Schreckliches passiert.« Und dann berichtete sie den beiden von den Mordfällen.
»Aber warum sind John und sein Vater gemeinsam hinter diesem Arzt her?«, fragte Joshua. »Ich dachte immer, dass sich die beiden nicht gut verstehen.«
Charmaine suchte mühsam nach Worten, weil sie unmöglich die Wahrheit sagen konnte. Aber Loretta verstand auch so, dass noch sehr viel mehr hinter dieser Geschichte steckte.
»Aber, aber, liebe Charmaine«, wiegelte sie ab. »Wir wollten Sie keinesfalls aufregen.« Sie sah ihren Mann warnend an. »Außerdem ist das nicht gut für das Kind. Ich würde mich gern ein wenig frisch machen und etwas ausruhen. Die Reise war doch sehr ermüdend. Würden Sie uns bitte unser Zimmer zeigen?«
»Aber natürlich.« Charmaine war für Lorettas Verständnis sehr dankbar. »Wie lange können Sie denn bei uns bleiben?«
»So lange, wie es Ihnen behagt«, bot Loretta in überschwänglicher Liebe an.
»Dann auf jeden Fall, bis das Baby geboren ist«, sagte Charmaine.
Loretta sah ihren Mann an. »Ich bin sicher, dass wir das einrichten können, nicht wahr, Joshua?«
Montag, 15. Oktober 1838
Johns zweiter Brief an Charmaine kam im Lagerhaus der Familie
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