Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
entspannter Atmosphäre. Dennoch war der harte Tag noch nicht vorbei. Nach dem Dinner zog er sich mit Frederic, Agatha und Stephen Westphal für zwei Stunden ins Arbeitszimmer zurück, um die letzten Vorbereitungen für die Festwoche zu besprechen. Sie vervollständigten die Gästeliste und planten den Transport und die Unterbringung der Gäste sowie die Kosten für das festliche Ereignis.
Als die Uhr im Foyer elf schlug, bemerkte Agatha, dass Frederic und Stephen genauso müde waren wie sie selbst. Der Banker hatte längst seine Krawatte gelockert und die Jacke abgelegt. Im gedämpften Licht der Bibliothek musste er ein Gähnen unterdrücken, als Paul noch eilig letzte Einzelheiten notierte. Auch ihrem Mann waren schon mehr als einmal die Augen zugefallen.
»Vielleicht solltet ihr morgen weitermachen, Paul«, bemerkte Agatha mit einem Blick auf Stephen. »Ich fürchte, unser Gast ist müde.«
»Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee«, stimmte Stephen erleichtert zu.
Paul hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es war tatsächlich schon spät. »Verzeihen Sie, Stephen.« Er legte die Feder aus der Hand und erhob sich. »Ich vergaß, dass die Sache Sie ja nicht im gleichen Maße interessiert wie mich. Ich lasse sofort Ihren Wagen vorfahren. Wünschen Sie eine Begleitung?«
»Danke, aber das halte ich nicht für nötig. Mir wird schon keiner auflauern.«
Alle außer Frederic lachten. »Dann wünsche ich allen eine gute Nacht«, sagte Frederic und verließ gleich hinter Paul den Raum.
Agatha war erleichtert, als sie endlich mit Westphal allein war. Sie griff nach seiner Jacke und half ihm hinein. Dann begleitete sie den Banker hinaus ins Foyer. »Sie haben anfangs erwähnt, dass Sie Verbindung mit Mr Richecourt aufnehmen wollen.«
Stephan Westphal nickte.
»Dürfte ich Sie in diesem Zusammenhang um einen Gefallen bitten? Sie haben das schon einmal für mich gemacht.«
»Geht es wieder um Miss Ryan?«, fragte Westphal.
»Im Moment ist Miss Ryan nicht von Interesse. Nein, diesmal geht es um John. Er verbringt sehr viel Zeit in New York. Das hat er selbst erwähnt, und zwar lange vor Pierres tragischem Tod. Ob Sie Mr Richecourt wohl bewegen könnten, für mich herauszufinden, was genau John dort oben im Norden treibt? Ich sorge mich um die Konten, die John geschlossen hat, und ich fürchte, dass mein Mann viel zu vertrauensselig ist.«
Westphal nickte betrübt. »Genau dasselbe habe ich schon manches Mal gedacht, doch Frederic gegenüber mochte ich das Thema bisher nicht ansprechen. John ist …«
»Sie müssen das jetzt nicht kommentieren«, unterbrach ihn Agatha und tätschelte verständnisvoll seine Hand. »Seien Sie versichert, dass Sie für Ihre Bemühungen entschädigt werden.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann. Jetzt wünsche ich Ihnen erst einmal eine gute Nacht, Agatha.«
Agatha strahlte. »Gute Nacht, Stephen.«
Mit diesen Worten trat er auf die Veranda hinaus und wartete auf seinen Wagen.
Samstag, 20. Januar 1838
Yvette hatte einen Plan. Sie wollte herausfinden, wohin ihre Stiefmutter jeden Samstag fuhr und warum sie die Fahrt immer allein antrat. Dazu musste sie einige Hindernisse überwinden. Erstens musste sie ihren Vater überlisten, und zweitens musste sie einen Samstag abwarten, an dem Charmaine etwas mit Paul unternahm. Heute nun war es endlich so weit. Ihr Vater wollte mit ihnen einen Ausflug in den Hafen machen. Sobald Charmaine nach dem Frühstück in die Stadt unterwegs war, klagte Yvette über Magenschmerzen und bat ihren Vater, ausnahmsweise im Bett bleiben zu dürfen. Frederic war einverstanden und ließ sie in der Obhut der alten Kinderfrau zurück. Yvette verschwand schnurstracks nach oben, schlüpfte in ihr Nachthemd und legte sich mit angewinkelten Knien ins Bett. Sie hörte, wie Frederic und Jeannette im Wagen davonfuhren, doch als Nana Rose nach ihr sah, stellte sie sich schlafend. Mittags wäre sie vor Hunger beinahe gestorben, aber ins Esszimmer wagte sie sich trotzdem nicht. Gegen zwei sah Nana noch einmal nach ihr und brachte etwas Toast, Tee und einen Krug mit frischem Wasser. Leise stöhnend schob Yvette das Tablett zurück, und als Nana Rose sie streichelte, schloss sie die Augen und tat so, als ob sie döse. Als sie hörte, wie die Kinderfrau auf Zehenspitzen das Zimmer verließ, war sie unendlich stolz. Die Täuschung war gelungen. Perfekt! Jetzt konnte sie ihren Plan in die Tat umsetzen und wieder zurück sein, bevor jemand ihr Verschwinden
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