Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
freue mich sehr, dass es dir gut geht und du wieder bei Kräften bist.« Sie trat zu ihm und strich ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn. »Ich liebe dich, Frederic.«
Er umfasste ihr Handgelenk und drückte ihre Finger an seine Lippen. »Ich danke dir für alles, was du getan hast.«
Sonntag, 25. Februar 1838
George Richards war begeistert.
Er hatte Paul in den Hafen begleitet, um auf die Destiny zu warten, mit der auch Stephen Westphals Tochter Anne London ankommen sollte. Da Paul die Lady sofort nach der Ankunft ins Herrenhaus bringen wollte, war George für das Entladen des Seglers eingeteilt. Das Anlegemanöver klappte vorbildlich.
Anne wartete bereits ungeduldig, und als die Gangway endlich herabgelassen wurde, eilten Paul, George und Stephen unverzüglich an Deck, um sie zu begrüßen. George konnte die Lady vom ersten Augenblick an nicht ausstehen. In seinen Augen war sie eingebildet und unangenehm und hatte außerdem zu viel Rouge aufgelegt. Mit abwesender Miene hauchte sie ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und hatte von da an nur noch Augen für Paul. Verärgert nutzte George die Gelegenheit, um das Gepäck der Lady aus der Kabine zu holen.
Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht unter Deck gewöhnt hatten. Und dann sah er sie: eine junge Frau, die nach verschiedenen Paketen und Taschen griff. Lange braune Haare, dazu olivfarbene Haut und hohe Wangenknochen. Sie war so außergewöhnlich, dass es ihm den Atem verschlug.
»Guten Tag«, brachte er mühsam heraus, »ich möchte Mrs Londons Gepäck abholen.«
Sie nickte nur und sah errötend zu Boden. Dann lief sie eilig davon. Schnell packte George zwei Koffer und folgte ihr. An Deck war es strahlend hell. Die junge Frau war ihm nicht weit voraus. An der Gangway stolperte sie und musste nach der Reling greifen, woraufhin ihr einige Gepäckstücke aus der Hand rutschten. George ließ seine Koffer Koffer sein und eilte der jungen Frau zu Hilfe.
»Alles in Ordnung?« Er stützte sie am Ellenbogen, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann sammelte er die Sachen auf, und als er sich wieder aufrichtete, begegneten sich ihre Blicke.
Wieder errötete sie. »Ja, vielen Dank.«
»Keine Ursache.« Er lächelte. »Nehmen Sie lieber meinen Arm.«
Eine schlanke Hand glitt in seine Armbeuge, und so führte er die junge Frau auf den Kai hinunter.
»Ich miete noch schnell eine zusätzliche Kutsche«, sagte Paul, »während du das übrige Gepäck heraufholst.«
George nickte nur, doch als er an Deck zurückkam, fuhr der erste Wagen mit Anne London, Paul und der hübschen jungen Frau bereits davon. Wer ist sie?
Unglaublicher Lärm hallte durchs Treppenhaus. Neugierig trat Charmaine aus dem Kinderzimmer in den Flur, und die Zwillinge folgten ihr auf dem Fuß. Vor Johns Zimmer hatten Travis und Joseph einen Berg lederner Taschen und einige Koffer aufgetürmt und eilten bereits wieder nach unten. Ratlos sah Charmaine die Zwillinge an, aber die zuckten nur die Schultern. Im nächsten Moment machte Yvette auf dem Absatz kehrt und rannte durchs Kinderzimmer auf den Balkon hinaus.
»Sehen Sie nur, Mademoiselle!«
Charmaine und Jeannette folgten ihr. Vor dem Haus sahen sie zwei Wagen, und auf der Wiese standen zwei Frauen, die sie nicht kannten. Die eine unterhielt sich mit Paul und Mr Westphal. Sie trug ein elegantes blassgelbes Kleid mit großem Ausschnitt und hielt einen Sonnenschirm in der Hand. Das rotblonde Haar wurde von einem breitkrempigen Hut bedeckt, der schräg auf ihrem Kopf thronte. Dazu ein herzförmiges Gesicht, rosige Wangen, ausdrucksvolle dunkle Augen und üppige Formen. Anne London, vermutete Charmaine. Fürwahr eine attraktive Lady, aber mit Colette Duvoisins Grazie konnte sie nicht mithalten. Sie hielt den Kopf zur Seite geneigt, und um ihre Lippen spielte ein leises Lächeln, während sie Paul nicht aus den Augen ließ.
Ihre Begleiterin war etwas jünger, vielleicht so alt wie Charmaine, und eher schlicht gekleidet. Sie war groß und schlank, und das lange, mit einem Band zurückgebundene Haar reichte bis auf die Hüften. Als sie mehrere Hutschachteln auf einmal vom Wagen hob, geriet die oberste gefährlich ins Rutschen, bis sie letztendlich auf die Wiese fiel und ein mit Rüschen besetztes Hütchen ins Gras rollte.
»Aber, aber, Mercedes, sei gefälligst vorsichtiger!« Entrüstet schnalzte Anne London mit der Zunge. »Ich habe es noch nicht einmal getragen, und du wirfst es in den Schmutz!«
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