Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
ihr gewechselt. Jetzt kannte sie den Grund. Ganz gleich, ob John lebte oder tot war … Paul liebte Charmaine und würde sie immer lieben. Sie musste ihn vergessen.
Langsam ging die Familie über den Kai zur Hauptstraße zurück. In ihrer Freude hatte Charmaine die Harringtons vollkommen vergessen, doch als sie auf sie zusteuerte, lächelten die beiden ihr entgegen. Mit dem einen Arm hatte sich John bei seiner Frau eingehängt, und Father Michael Andrews stützte den anderen.
»John, dies sind Loretta und Joshua Harrington«, erklärte sie voller Stolz. »Mr und Mrs Harrington, darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen?«
John grinste übermütig. »Genau: Joshua, der Prophet. Es tut mir leid, dass ich Sie in Richmond nicht erkannt habe. Wenn Sie allerdings Ihr Gewand getragen hätten …«
»Aber, John!«, mahnte Charmaine, während ihr Blick von Joshua zu Father Michael eilte, der hinter vorgehaltener Hand kicherte. »Ich habe den Harringtons gesagt, dass du gar nicht so unverbesserlich bist, wie alle behaupten. Aber du musst mir natürlich in den Rücken fallen.«
»Ich bin sogar noch schlimmer«, sagte John. Doch als Charmaine die Stirn runzelte, wurde er ernst. »Nein, my charm , das käme mir nicht in den Sinn.« Er schüttelte Joshua die Hand. »Ich danke Ihnen sehr, dass Sie nach Charmantes gekommen sind und sich um meine Frau gekümmert haben.« Er schenkte Loretta sein strahlendstes Lächeln. »Mrs Harrington.«
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Loretta lächelte skeptisch und wandte sich dann an Charmaine. »Geben Sie mir Marie. Dann können Sie Ihrem Mann besser in den Wagen helfen.«
Die Zwillinge hüpften um ihren Vater herum und schwatzten in einem fort. »Du hast ja gar keinen Stock, Papa!«, rief Jeannette.
»Den habe ich irgendwo verloren.« Frederic legte den Arm um ihre Schultern. »Ich glaube, ich brauche keinen Stock mehr. Nicht wenn ich mich auf euch beide stützen kann. Schließlich liegen die aufregenden Zeiten jetzt hinter uns.«
»Ihr seid nicht die Einzigen, die Aufregendes erlebt haben!«, unterbrach ihn Yvette. »Warte nur, bis du hörst, was hier passiert ist!«
»Zuerst will ich John in den Wagen helfen. Danach könnt ihr mir dann auf dem Heimweg alles erzählen.«
Am Ende des Kais erwartete sie der Wagen. John wehrte alle hilfreichen Hände ab und zog sich mit einiger Anstrengung selbst hinein. Er schnitt eine Grimasse, als er auf den Sitz sank, und stieß die Luft aus, doch er überspielte den Schmerz mit der Bitte, Marie halten zu dürfen. Charmaine reichte ihm die Kleine und setzte sich neben ihn, während Father Michael Andrews ihnen gegenüber Platz nahm.
Als der Wagen anfuhr, ergriff Charmaine die Hand ihres Mannes und betrachtete eingehend jede Linie seines Gesichts, während er auf seine schlafende Tochter hinuntersah und ihre zarten Züge bewunderte.
Michaels Herz weitete sich vor Freude, denn die Liebe zwischen diesen beiden Menschen war fast körperlich zu spüren.
»Ich träume«, flüsterte Charmaine, woraufhin John den Blick von Marie abwandte. »Ich weiß genau, dass ich träume.«
»Aber nein, my charm .« Er lachte leise. »Das ist kein Traum. Ich bin wirklich und wahrhaftig hier.«
»Aber ich hatte eine Vorahnung … damals in der Nacht, als Marie auf die Welt kam … Ich habe geträumt, dass du gestorben bist!«
John legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Ich bin auch gestorben«, flüsterte er, »aber deine Mutter hat mich zu dir zurückgeschickt.«
Sie hielt den Atem an. » Meine Mutter? «
»Ja.« John nickte und sah wieder auf seine schlafende Tochter hinunter. »Deine Mutter … Marie … sie hat mich schon einmal gerettet. Und zwar lange bevor ich dich kannte, my charm . Erst im letzten August habe ich erfahren, dass Marie deine Mutter war. Sie hat mir in der schrecklichen Zeit kurz vor und nach Pierres Geburt beigestanden. Durch sie habe ich auch Father Michael kennengelernt.«
»Du lieber Gott!« Charmaine bekam Gänsehaut.
»Was ist los?«
» Du warst das also«, flüsterte sie. » Je größer der Reichtum, desto tiefer der Schmerz . Das hat meine Mutter öfter gesagt. Damals habe ich nicht verstanden, was sie meinte oder von wem sie sprach. Nach Pierres Tod habe ich die Nähe meiner Mutter ganz deutlich gespürt. In der Kapelle hat sie neben mir gestanden. Auch am Tag darauf sind mir diese Worte während der Beerdigung ständig durch den Kopf gegangen. Tagelang habe ich daran denken müssen. Jetzt bin ich mir sicher,
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