Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Schließlich beugte er sich hinunter und küsste sie, und Charmaine schlang die Arme um seinen Hals und begegnete seinen Lippen voller Leidenschaft. So standen die beiden lange mitten in der prallen Sonne und scherten sich weder um Freunde und Familie noch um die Menschen auf dem Kai oder gar die Matrosen auf dem Schiff.
Frederics Herz schwoll vor Stolz, Michaels Kehle verengte sich, und Joshua und Loretta hielten einander vor Aufregung eng umschlungen. Wieder und wieder stammelte Charmaine Johns Namen, zauste ihm das Haar und folgte mit dem Finger zärtlich jedem seiner Züge, als ob sie nicht glauben könne, was sie vor sich sah.
Irgendwann hielt John seine Frau auf Armeslänge von sich und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Und? Wo ist sie?«
Als Charmaine ihn noch fragend ansah, trat Jeannette auf die beiden zu und präsentierte John das kleine Bündel, das sie im Arm hielt. »Hier ist sie, Johnny. Hier ist die kleine Marie.«
Sanft hob John seine Tochter in die Höhe, bettete sie in seine Armbeuge und beobachtete lächelnd, wie sie strampelte, gähnte und zufriedene Laute von sich gab. »Sie ist unglaublich hübsch«, flüsterte er heiser und begegnete Charmaines Blick. »Das hast du wunderbar gemacht.«
»Genauso wunderbar wie du.«
In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass aller Augen auf sie gerichtet waren. Als John den Blick des Priesters suchte, runzelte sie die Stirn. Warum war Father Michael Andrews hier und weshalb diese bedeutungsvollen Blicke?
John lächelte unschuldig. »Was hast du denn?«
»Ich weiß genau, dass du etwas vor mir verbirgst.« Und als John sich dumm stellte und nur die Schultern zuckte: »Willst du es mir nicht verraten?«
Er grinste, und auf seinen Wangen bildeten sich Grübchen. »Was meinst du denn?«
Sie winkte ab. »Vergiss es einfach.« Früher oder später würde sie es herausfinden. Zufällig begegnete sie Father Michaels forschendem Blick, hatte aber nicht die leiseste Ahnung, was er dachte.
Dabei freute er sich nur, dass seine Tochter ihren Mann so gut kannte. Offenbar liebten die beiden einander von ganzem Herzen. Diesen Bund hatte Gott gesegnet.
»Willkommen auf Charmantes, Father Michael«, sagte Charmaine und ergriff seine Hand. »Was führt Sie denn zu uns?«
»Genau genommen ist John schuld. Wir sind seit fünf Jahren befreundet.«
Als Charmaine staunte, musste John lachen. »Wie du siehst, stehe ich nicht mit dem Teufel im Bund, wie du einst behauptet hast.«
Sie verdrehte die Augen und wandte sich wieder dem Priester zu.
»John ist ein großzügiger Förderer von St. Jude«, erklärte Father Michael.
» Mein Mann , der nicht einmal an Gott glaubt?«, fragte Charmaine ungläubig.
»Umso mehr glaube ich an gute Menschen und gute Werke, my charm .«
An diesem Punkt unterbrach Frederic die Unterhaltung. »Komm, John«, sagte er mit besorgtem Blick, »du warst jetzt lange genug auf den Beinen. Es wird Zeit, dass wir nach Hause fahren.«
Charmaine war beeindruckt, wie liebevoll Frederic seinen Sohn umsorgte.
»John war sehr krank«, erklärte Frederic. »Er muss sich von einer ernsten Verletzung erholen und sollte sich nicht zu sehr anstrengen.«
»Es geht mir schon wieder gut, Charmaine«, versicherte John, als er ihr besorgtes Gesicht sah. »Das Schlimmste ist überstanden, aber Vater hat recht. Ich würde mich jetzt gern hinsetzen.«
Sie nickte schweigend und nahm ihm Marie ab, die zum Glück schlief.
Yvette war neugierig. »Hast du ihn erwischt, Johnny? Hast du Dr. Blackford getötet?«
Die Umstehenden hielten den Atem an, bis Frederic endlich das Wort ergriff. »Blackford ist tot, Yvette.« Es schien ihm am klügsten, die Geschichte gleich hier und jetzt zu erzählen. »Als er deinen Bruder mit dem Messer angegriffen hat, habe ich geschossen und ihn getötet. Jetzt kann er unsere Familie nicht mehr bedrohen.«
Paul erbot sich, einige Wagen aus dem Mietstall zu holen, doch als er sich abwenden wollte, hielt ihn Charmaine am Arm zurück. Sie bemerkte ein Lächeln in seinen Augen und sah, wie herzlich er sich für sie freute.
»Ich danke Ihnen sehr«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Vielen Dank für alles.«
Er strahlte über das ganze Gesicht. »Keine Ursache. Aber jetzt ist Schluss mit den Tränen!«
Mit brennenden Augen beobachtete Rebecca Paul und Charmaine, während sie über die Gangway von Bord eilte und sich auf den Heimweg machte. Seit dem Nachmittag, als John und Frederic an Bord gekommen waren, hatte Paul keine zwei Worte mit
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