Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
schlafenden Marie im Arm aus dem Wagen stieg.
Als sie zur Bar zurückkam, traten die Harringtons und die Mädchen gerade auf die Straße. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Hafen.
Plötzlich ließ lautes Rufen Charmaines Herz höher schlagen, und als sie aufblickte und weit draußen vor der Halbinsel geblähte Segel erblickte, setzte ihr Herz vor Schreck einen Schlag lang aus. Gebe Gott, dass das Schiff die Flagge der Duvoisins führt! Gebe Gott, dass es aus New York kommt! Gebe Gott, dass Paul John gefunden hat!
Alle drängten zum Kai hinunter, und binnen kürzester Zeit hatte sich eine große Zuschauermenge versammelt. Wer Charmaine und die Zwillinge ansah, konnte die bange Erwartung ahnen, mit der sie dem Segler entgegenblickten, während er die Landspitze umrundete und in die Bucht einfuhr. Joshua geleitete sie zu einem freien Platz, wo sie eine halbe Ewigkeit warten mussten, bis endlich der Segler nah genug war. »Es ist die Tempest !«, rief einer der Umstehenden. Charmaines Hand flog an ihre bebenden Lippen. Hier und heute bekam sie ihre Antwort.
»Sehen Sie nur, Mademoiselle«, rief Jeannette, »Wade ist auch da!«
Wade Remmen gesellte sich zu ihnen, aber Charmaine konnte das Schiff keine Sekunde lang aus den Augen lassen.
»Darf ich Marie halten?«, bat Jeannette, weil sie ihm das Baby gern zeigen wollte.
Ohne den Blick vom Schiff zu wenden, reichte Charmaine die Kleine an sie weiter. Jeannette kicherte, als Marie quietschte und strampelte.
Die Tempest wurde ständig größer, bis man sogar vom Kai aus erkennen konnte, wie die Matrosen durch die Rahen turnten, um die Segel zu reffen und das mächtige Handelsschiff auf das Anlegemanöver vorzubereiten. Yvette wollte weiter nach vorn laufen, doch Joshua hielt sie zurück. Als Charmaine kein bekanntes Gesicht an der Reling ausmachen konnte, faltete sie die Hände, hob sie an die Lippen und betete ein stilles Ave-Maria.
Loretta tätschelte ihren Arm. »Es geht alles nach Gottes Willen, mein liebes Kind.«
Charmaine betete um die nötige Kraft, dieses Kreuz auf sich zu nehmen und ihr Schicksal zu tragen.
Holz rieb gegen Holz, als sich der mächtige Schiffsbauch an dem Kai rieb. Hafenarbeiter fingen die Taue auf und schlangen sie um die Poller, während die Gangway herabgelassen wurde. Als Charmaine plötzlich Father Michael Andrews aus Richmond erblickte, war sie völlig verwirrt, und das umso mehr, als dieser Frederic Duvoisin den Arm reichte und zusammen mit ihm das Schiff verließ.
»Papa!«, jubelte Jeannette lauthals und rannte ihm mit der kleinen Marie entgegen. Sobald Frederic festen Boden unter den Füßen hatte, warf sie sich in seine Arme.
Charmaines Blick irrte zurück an Deck, aber von John oder Paul war nichts zu sehen. Obwohl Frederic ihr zulächelte, sah sie den Kummer in seinen Augen. Ihr Herz erstarrte. Er ist ohne John zurückgekommen! Er hat einen Priester mitgebracht … den Priester meiner Familie! Das war Antwort genug. Er hat Father Michael mitgebracht, damit er mich tröstet .
Sie schluckte einen abgrundtiefen Seufzer hinunter und barg ihr Gesicht an Joshua Harringtons Brust. Als seine Arme sie umfingen, ließ sie ihrem Kummer freien Lauf.
Plötzlich übertönte ein schriller Schrei den allgemeinen Lärm. »Johnny! Johnny ist wieder da!«, schrie Yvette.
Charmaine schoss herum, während der Name noch in ihrem Innersten widerhallte und die unterschiedlichsten Gefühle weckte. Und dann erblickte sie ihren Mann, wie er über die Gangway vom Schiff humpelte. Paul hielt ihn am Arm und stützte ihn bei jedem Schritt. Er schien Schmerzen zu haben, doch als er sie erblickte, lächelte er strahlend. Charmaine konnte ihr Glück nicht fassen und blieb wie angewurzelt stehen, während sich Stille über den Kai legte. »Ist das John?«, hörte sie Loretta hinter sich fragen. Als John das Ende der Gangway erreicht hatte, grinste er so verwegen wie eh und je. »Na, willst du deinen verlorenen Ehemann wiederhaben, my charm ?«
In diesem Moment fiel aller Kummer von ihr ab, und sie rannte los. John löste sich von Paul und trat einen Schritt auf Charmaine zu. Seinen Namen rufend stürzte sie sich in seine weit geöffneten Arme und weinte vor Glück, als sie spürte, wie seine Arme sie umschlangen, wie er das Gesicht in ihrem Haar barg und seine Umarmung ihr fast den Atem nahm. Irgendwann hob er den Kopf und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, während seine Daumen ihre Wangen liebkosten und ihre Tränen trockneten.
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