Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
dass sie damals über dich gesprochen hat. Über dich und deinen Schmerz!«
John erinnerte sich gut. Er hatte Marie gesagt, dass der Reichtum seines Vaters sein Leben zerstört habe und er sicher sei, dass Colette ihre Liebe diesem Reichtum geopfert habe. Er sah zu Father Michael hinüber. »Mir scheint, dass Marie uns beide zusammengeführt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich auch nur geahnt hätte, welches Leben deine Mutter an der Seite von John Ryan fristen musste, hätte ich der Sache ein Ende gemacht. Das schwöre ich. Aber sie hat mich nie mit eigenen Schwierigkeiten belastet, sondern sich immer nur um mich gesorgt. Ich kannte weder ihren Nachnamen, noch wusste ich, dass sie gestorben war. Als das Verbrechen geschah, war ich längere Zeit in New York. Ich habe auch nie eine Verbindung zwischen dir, John Ryan und ihr hergestellt.« Inzwischen hatte er sich in Wut geredet. »Er wird seine gerechte Strafe erhalten. Das verspreche ich dir.«
Charmaine seufzte. »Darüber musst du dir nicht mehr den Kopf zerbrechen.«
Die Bemerkung beunruhigte ihn. Paul hatte berichtet, dass John Ryan Anfang Dezember nach Charmantes gekommen war und er ihn ins Gefängnis gesperrt hatte. »Was ist geschehen?«, fragte John besorgt.
In kurzen Worten berichtete Charmaine, wie Benito St. Giovanni und John Ryan aus dem Gefängnis entkommen waren. John fluchte, und seine Miene verfinsterte sich, als er begriff, in welche Gefahr er Charmaine, seine Tochter und die Zwillinge gebracht hatte. Das Ende der Geschichte entlockte ihm jedoch ein Grinsen … und eine lakonische Bemerkung: »Zum Glück habe ich Yvette das Schwimmen beigebracht.«
»Genau das hat sie auch gesagt«, bemerkte Charmaine. »Dabei hätte mein Vater sie umbringen können!« Sie senkte den Kopf. »Doch Gott, der Allmächtige, hat sie beschützt.«
Es war genau der richtige Augenblick, um mit dieser Lüge aufzuräumen und ihr das Schuldbewusstsein zu nehmen. »John Ryan war nicht dein Vater, my charm . Du musst dir keine Vorwürfe machen.«
Überrascht sah Charmaine auf. »Woher weißt du das?«
John war mindestens so erstaunt wie sie. Offenbar war ihr die Wahrheit nicht völlig unbekannt. Aber wieso?
»Weil ich dein Vater bin«, flüsterte Michael.
Charmaine war entsetzt, aber John drückte ihre Hand und ermutigte sie, die ganze Wahrheit anzuhören. »Deine Mutter und ich haben uns von ganzem Herzen geliebt.« Michael räusperte sich. »Ich wusste nicht, dass sie ein Kind von mir erwartete. Das habe ich erst vor neun Monaten erfahren.«
Die Beichte fiel ihm nicht leicht.
»Eines Tages hat Marie mich verlassen, und als sie nach St. Jude zurückkam, warst du bereits ein kleines Mädchen. In meinen Augen warst du John Ryans Tochter.« Er zog einen Brief aus der Tasche und reichte ihn ihr. »Diesen Brief hat deine Mutter geschrieben.«
Charmaine betrachtete die vertraute Handschrift auf dem Umschlag.
»Sie hat John einige Jahre vor ihrem Tod diesen Brief anvertraut«, fuhr Michael fort.
»Falls ihr etwas zustößt, sollte ich ihn Father Michael übergeben«, erklärte John. »Doch ich habe erst im vergangenen Frühjahr von Maries Tod erfahren.«
»Da ich John gegenüber nie deinen Namen erwähnt hatte, konnte er auch dann noch keine Verbindung zwischen dir und Marie erkennen«, fuhr Michael fort. »Während Pauls Fest habe ich die Harringtons in Richmond besucht und dabei erfahren, wo du lebst … und begriffen, dass John dich kennen muss. Doch erst als John mich aufsuchte und wegen eures Priesters um Nachforschungen bat, fügte sich endlich eines zum anderen.«
Charmaine war sprachlos, und John und Father Michael ließen ihr Zeit, um diese unglaubliche Geschichte in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen.
»Ich habe deine Mutter sehr geliebt, Charmaine«, erklärte Michael träumerisch. »Wenn ich gewusst hätte, dass sie ein Kind erwartete, hätte ich das Priesteramt niedergelegt. Aber sie wollte diesen Schritt verhindern. Deshalb hat sie ihr Geheimnis bewahrt und es niedergeschrieben.« Er sah auf den Brief hinunter, den Charmaine noch immer in der Hand hielt. »Sie hat ihr Glück für meine Berufung geopfert …«
Er senkte den Kopf, und Charmaine wusste, dass er mit den Tränen kämpfte. Sie streckte den Arm aus und ergriff seine Hand. »All die Jahre habe ich geglaubt, dass meine Mutter niemals wirklich glücklich war. Doch jetzt bin ich froh, dass ich mich geirrt habe. Sie haben sie von Herzen geliebt, und ich weiß, dass meine Mutter Ihre Gefühle
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