Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Verdacht auf sich zu ziehen. Am besten nahm er die Sache sofort in Angriff.
»Ich bin zutiefst enttäuscht«, bemerkte er salbungsvoll. »Die fragwürdige Moral … das prächtige Fest mitten in der Fastenzeit … die Missachtung alles Heiligen … Ich will es Ihnen lieber jetzt schon sagen, Frederic: Zum Jahresende möchte ich mich zurückziehen. Ich habe einen Brief von meiner Familie aus Italien erhalten. Von einem Neffen, der schwer erkrankt ist. Wenn Sie es wünschen, schreibe ich nach Rom und bitte um einen Ersatz.«
»Machen Sie, was Sie für richtig halten, Benito«, brummte Frederic. Dass er bezweifelte, dass irgendjemand den Priester vermisste, behielt er für sich.
Dienstag, 1. Mai 1838
Die Tage reihten sich in endloser Glückseligkeit aneinander, und unbeschwerte Liebesspiele, Picknicks und fröhliches Lachen ließen Charmaine erblühen. Paul war endgültig nach Espoir gezogen und nur zwei Mal für jeweils eine Nacht nach Charmantes gekommen. Dabei hatte er sorgfältig auf Distanz zu seinem Vater und auch zu Charmaine geachtet. An diesem Morgen nun saßen Frederic, John, die Mädchen, Rose, Mercedes und George einträchtig um den Frühstückstisch. Eine richtige Familie. Charmaine war froh, dass in den Gesprächen zwischen Vater und Sohn nichts mehr von der früheren Schärfe zu spüren war. Auch die Mädchen profitierten von der neu gewonnenen Harmonie. Yvette erzählte einen Witz, woraufhin alle lachten.
Als Fatima frischen Kaffee brachte und Charmaines Teller sah, runzelte sie die Stirn. »Sie haben ja gar nichts gegessen, Miss Charmaine!«
»Es tut mir leid, Cookie, aber mir ist heute Morgen nicht wohl.«
John beugte sich vor. »Ist alles in Ordnung, my charm ?«
Sie schob ihren Teller zurück. »Alles könnte bestens sein, wenn mir nur nicht so übel wäre.«
John wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit seinem Vater, woraufhin dieser lächelnd zu Charmaine hinübersah.
»Sir?«, fragte Charmaine beunruhigt, als ob er etwas gesagt hätte.
»Sie gehören jetzt zur Familie, Charmaine, und ich wäre froh, wenn Sie von heute an Frederic zu mir sagten.«
»Ich glaube nicht, dass ich das …« Hastig murmelte sie eine Entschuldigung. Dann schob sie ihren Stuhl zurück und rannte in die Küche, wo sie gerade noch rechtzeitig den Ausguss erreichte.
»Geht es wieder, Miss Charmaine?«, fragte Fatima besorgt.
Im nächsten Moment war John an ihrer Seite und strich ihr beruhigend über den Rücken, bis sie sich erholt hatte. »Komm, Charmaine, setz dich erst einmal«, sagte er und sah Fatima vielsagend an.
»Aber nein, es geht mir bestens. Wirklich.«
John kicherte in sich hinein. »Davon bin ich überzeugt.«
»Hör auf zu lachen!«, schimpfte sie.
»Ich lache nicht. Schließlich bin ich ja daran schuld.«
»Schuld?« Charmaine war erstaunt. »Woran?«
»An deinem Zustand.« Er beugte sich nahe zu ihrem Ohr. »Denkst du, dass es ein Michael wird oder doch eine Michelle?«
Charmaine lief dunkelrot an. Ihre Unschuld wärmte Johns Herz. »Ich liebe dich, Charmaine Duvoisin!«, rief er. »Komm endlich! Schließlich wollen alle die gute Nachricht hören …«
»John … warte! Bist du sicher? Wie kannst du das wissen?«
»Warte nur ein paar Monate … und dein Bauch wird es allen verraten.«
Fatima lachte laut.
Montag, 7. Mai 1838
Als Frederic bei den Tabakfeldern ankam, war John längst dort. Er wischte seine Hände mit einem Lappen ab und ging zu seinem Vater hinüber. »Was machst du denn hier?«, fragten beide wie aus einem Mund.
Frederic lachte, aber John antwortete als Erster. »Da Charmaine noch nicht gleich nach Richmond fahren möchte, will ich mich hier ein wenig nützlich machen. Und was führt dich hierher?«
Frederic band sein Pferd an einen Baum. »Inzwischen reite ich jeden Tag aus. Die Arbeit tut mir gut.«
John nickte verständnisvoll.
Frederic blickte über die Felder. »Ich denke darüber nach, das Land einfach umzupflügen. Die erste Tabakernte hat unsere Erwartungen ganz und gar nicht erfüllt. Pauls anfängliches Urteil war richtig. Die Felder müssen einige Zeit brachliegen. Später bauen wir dann wieder Zuckerrohr an.«
John runzelte die Stirn. »Soviel ich weiß, überschwemmt doch Espoirs Rekordernte die Märkte.«
»Das ist richtig. Paul hat wahrlich ganze Arbeit geleistet.«
»So gesehen wäre es doch schade um die Investition.« John deutete über die Felder. »Das erste Jahr war vielleicht unbefriedigend, aber Harold sagt, dass die Ackerflächen, die
Weitere Kostenlose Bücher