Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
gern eines der Hausmädchen, damit sie Ihnen behilflich ist.«
»Nein, nein, ich möchte lieber wach sein, wenn dein Vater kommt.« Entschlossen betrat sie den Wohnraum.
In diesem Moment platzte Paul der Kragen. Sein Vater war für diese Situation verantwortlich und sollte ihm für seine Schandtaten Rede und Antwort stehen. Es wurde Zeit, dass er mit ihm sprach.
»Geht es dir jetzt besser?«, fragte John, nachdem Charmaine rechtzeitig die Toilette erreicht hatte. Die letzten zehn Tage waren sehr unschön gewesen.
»Das werden schreckliche neun Monate, fürchte ich.«
»Rose sagt, dass die Übelkeit nur einen Monat oder allerhöchstens zwei andauert.«
»Sie hat leicht reden!« Stöhnend ließ sich Charmaine aufs Bett plumpsen. Als er leise lachte, fauchte sie ihn an. »Lach du nur! Du hattest ja dein Vergnügen …«
»Mein Vergnügen, my charm ?« Er sah, wie sie errötete. »Du wirst ja immer noch rot.«
»Hinaus!« Sie wies ihm die Tür.
»Zuvor muss ich etwas mit dir besprechen.«
Sein ernster Ton beunruhigte sie.
»Ich bin jetzt schon sechs Wochen auf Charmantes, aber in Virginia und New York wartet sehr viel Arbeit auf mich. Ich würde dich und die Mädchen gern mitnehmen. Deshalb habe ich gestern mit Vater gesprochen. Mit seiner Erlaubnis dürfen die Zwillinge uns begleiten. Ich möchte dir auch gern unser Haus zeigen.«
Noch bevor er geendet hatte, erstarrte sie. Richmond … ihr früheres Zuhause … das gefiel ihr nicht. Andererseits könnte sie die Harringtons wiedersehen und ihnen voller Stolz ihren Mann präsentieren. Doch beim Gedanken an John Ryan kribbelten ihre Nackenhärchen. Er lief noch immer frei herum. Dagegen war Charmantes ein Paradies, wo sie keine Angst haben musste. »Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Vermutlich wird mir die ganze Reise lang übel sein.«
»Also gut. Ein bisschen länger können wir die Reise noch aufschieben. Vielleicht hat Rose ja recht, und es geht dir bald besser. Vater freut sich auf jeden Fall. Inzwischen merkt er, wie viel Arbeit ihm Paul Tag für Tag abgenommen hat.«
»Ich hoffe nur, dass du dich nicht überarbeitest.« Sie schauderte bei der Erinnerung an Pauls lange Arbeitstage.
»Ich? Eher nicht. Aber jeden Tag ausreiten und picknicken können wir uns nicht mehr leisten.« Er sah sie an. »Was hältst du von einem kleinen Spaziergang? Ein bisschen Sonnenschein tut dir sicher gut.«
Charmaine war einverstanden, doch sie hatten das Foyer noch nicht erreicht, als Paul hereinstürmte. Er sah Charmaine finster an, und seinen Bruder grüßte er mit einem knappen »John!«.
»Hallo, Paul«, sagte dieser ebenso knapp und legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. »Wir haben gute Neuigkeiten. Charmaine erwartet ein Kind.«
»Meinen Glückwunsch«, bellte Paul. Der Tag wurde noch schlimmer. »Wo ist Vater?«
»Mit Yvette und Jeannette in der Stadt. Das stimmt doch, nicht wahr, Charmaine?«
Sie sah zu Boden und murmelte nur. »Ja.«
Paul fluchte. Das bedeutete, dass er wieder den ganzen Weg zurückreiten musste. Ohne ein weiteres Wort stürzte er aus der Tür.
Aufmunternd drückte John Charmaines Schultern. »Du solltest ihm deinen Ärger nicht zeigen. Das freut ihn doch nur.«
Charmaine bekam eine Gänsehaut, und plötzlich wurde ihr ganz kalt. »John«, murmelte sie, ohne auf seine Worte zu achten, »würdest du mich bitte in die Stadt begleiten?«
»Und warum?«
»Ich habe ein schlechtes Gefühl, was Paul angeht.«
»Einverstanden.«
Sie bestand darauf, dass sie ritten, weil das schneller ging. Kaum zehn Minuten später waren sie unterwegs. Die Bedenken, dass der Ritt dem Kind schaden konnte, schob sie beiseite. Sie fühlte sich nicht anders als sonst, und in der letzten Zeit hatte sie Bewegung an der frischen Luft schätzen gelernt.
Sie fanden die beiden Mädchen im Laden. Paul hatten sie nicht gesehen, aber Frederic war zum Hafen gegangen. In einer halben Stunde wollten sie sich zum Lunch in der Bar treffen. Charmaine blieb bei den Kindern, und John versprach, nach einem Abstecher in den Hafen ebenfalls in die Bar zu kommen.
»Dann holt sie eben mit Netzen von Bord«, befahl Frederic. »Ich bleibe hier unten und sage, wann ihr den Baum absenken könnt.« Die Arbeiter eilten aufs Schiff und ließen ihn auf dem Kai zurück.
Frederic genoss den Tag. Er dankte dem Himmel, dass er sich immer besser fühlte und in seiner damaligen Verzweiflung nicht einfach gestorben war. Er hatte seinen Frieden mit John gefunden, auch wenn sich die
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