Die Macht des Amuletts
Stimme war jetzt leiser, drohender.
»Schließlich war das Korn bereit. Alle Stämme sammelten sich zur Ernte, das kostbare Getreide würde sie im kalten Winter am Leben erhalten. Der Kornkönig wurde herbeigebracht.
Die auf ihn wartete, war alt; sie war der Tod und der Winter, die ganze Härte der kalten, gefühllosen Erde. Sie trug eine Sichel aus geschärftem Stein. Jugend und Alter, Sommer und Winter standen sich gegenüber.
Und der Kornkönig wurde dort im Korn erstochen, sodass sein rotes Blut zurückfloss in die Erde, tief in die Furchen, und sie bereicherte. Auch das Korn wurde geschnitten. Die Ernte war vorbei.
Im nächsten Jahr würde ein neuer Kornkönig gewählt werden und aus dem Tod des Einen würde neues Leben entstehen. Doch die letzte Garbe wurde aufbewahrt, denn in ihr lebte der Geist des Korns. Sie wurde zu einer seltsamen und gesichtslosen Figur geknotet und geflochten. Und sie wurde bis zum nächsten Jahr sicher aufbewahrt.« An einem Finger schwang er das Kornpüppchen. Katie wusste, dass es auf dem Jahrmarktfeld einen Stand mit solchen Püppchen gab.
Einen Augenblick herrschte Stille. Dann klatschte die Menge verhalten. Zuhörer streckten sich, manche Wechselten die Plätze. Ein paar Bierdosen wurden knackend geöffnet.
Steif stand Katie auf und humpelte nach hinten. Es gab noch mehr Darbietungen, aber sie war müde und gähnte. Einigen Leuten murmelte sie Gute Nacht zu, dann war sie an der Türklappe und drängte sich hindurch in die warme Nacht. Jemand holte sie ein. »Hallo.« Es war Sandy.
»Hallo!« Fast automatisch schaute sich Katie nach dem Baby um.
Die junge Frau kicherte. »Anna ist nicht hier. Michael ist ihr Babysitter. Wird ihm gut tun, ein paar Windeln zu wechseln.« Katie grinste. Sandy sah jung aus mit ihrem wehenden langen glatten Haar.
»Du bist nicht oft hier auf dem Feld.«
»Oh, an den meisten Nachmittagen schiebe ich Anna im Kinderwagen herum und schaue den Tänzern zu, aber ein freier Abend ist mal eine nette Abwechslung.« Sehnsüchtig sah sie zu dem Doughnutstand mit seinem Gebrutzel hinüber. »Wie war's mit einem Doughnut?« Katie dachte an ihr Abendessen, das im Wohnwagen auf sie wartete. »Na schön.«
Sie schlenderten ans Ende einer kurzen Schlange. Das Jahrmarktfeld war dunkel, nur wenige Buden waren mit Lichtergirlanden erleuchtet oder mit Petroleumlampen, die hinter den Planen brannten.
»Diese letzte Geschichte war unheimlich«, sagte Sandy. Katie nickte. »Eine traditionelle-Erzählung.« »Wer hätte das gedacht!«
»Nein, ich meine, hier auf dem Jahrmarkt. Sie wird jedes Jahr erzählt. Wegen des Rituals.«Sie kamen ein paar Schritte voran. Dann fragte Sandy beiläufig: »Wo ist Mick?«
Katie zuckte die Achseln. »Wer weiß?« Sie hatte es ruhig sagen wollen, doch selbst sie hörte den Groll heraus. Sandy sah sie neugierig an.
»Ach, es ist nur, weil er mir aus dem Weg geht. Seit Tagen habe ich nicht richtig mit ihm gesprochen – seit es wieder mit den Kornkreisen angefangen hat. Anscheinend ist er immer mit Rowan und ihren Freunden zusammen – die meisten von ihnen sind komische Typen. Oder er macht Musik. Er spielt überall mit – bei jedem schottisch-irischen Scheunenabend, jeder Session, nie scheint er aufzuhören. Ich finde das ja gut, aber«, wieder zuckte sie die Achseln und zog den Schal hoch, »er kommt mir wie besessen vor.« Sandy bezahlte die Doughnuts. Sie waren heiß und zart, wunderbar klebrig. Nach einem großen Bissen wischte sie sich Zuckerklümpchen von den Lippen. »Ich habe mich gefragt, was er vorhat. Ich werde ihm sagen, er soll langsam machen. Beim Frühstück ist mir aufgefallen, wie spitz er aussieht; er hat Mahlzeiten ausgelassen. Zu viel ungesunder Fraß.« Sie kicherte und biss wieder zu.
Katie nickte. Nicht weit entfernt war Alex mit einer Fiedel aus dem Bierzelt gekommen und schnell in die Budengassen ausgewichen.
»Wer ist das?« Sandy hatte ihn ebenfalls bemerkt. »Noch einer, der mir aus dem Weg geht.« Katie schleckte sich die Finger ab. »Danke für den Doughnut. Aber ich gehe besser nach Hause.«
»Wird dir auch nichts passieren?« Sandy schaute sich auf dem dunkelnden Jahrmarkt um. »Es überrascht mich, dass Jean dich nachts rumlaufen lässt.«Katiestrich sich die Haare zurück. »Das ist unser Jahrmarkt. Wir kennen einander.«
Aber als sie vom Feldrand aus winkte und in die schwach sichtbare Fahnengasse einbog, fragte sie sich, ob das noch stimmte. Alex hatte Recht. Etwas geschah mit dem Jahrmarkt.
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