Die Macht des Geistes
Hunderttausenden von Auspüffen, bis die Menschen Erstickungsanfälle bekamen. Polizeihubschrauber waren wie riesige Fliegen über dieser Schlange aus Chrom und Stahl entlanggesummt, ohne den Verkehr tatsächlich wirksam regeln zu können.
Die Zurückgebliebenen – etwa drei Viertel der Einwohnerschaft – lebten mehr schlecht als recht weiter. Gas, Wasser und Elektrizität standen nur noch in geringen Mengen und stundenweise zur Verfügung. Vom Land her wurden noch immer Nahrungsmittel in die Stadt transportiert, aber die New Yorker mußten mit dem zufrieden sein, was sie bekamen, und weit überhöhte Preise dafür bezahlen. Die Stadt glich im Augenblick einem riesigen Schmelztiegel, in dem es brodelte und zischte, als könne er jeden Augenblick überlaufen.
Vor drei Tagen war es zum zweitenmal seit Beginn der Veränderung in Harlem zu Rassenunruhen gekommen, die im Grunde genommen zu diesem Zeitpunkt unerklärlich waren, wenn man nicht voraussetzte, daß die weniger Gebildeten vor der Schwierigkeit standen, mit ihren neuen geistigen Kräften zurechtkommen zu müssen. In Harlem hatte es zahlreiche Tote, unzählige Verletzte und über fünfzig Brände gegeben, so daß die Polizei und die Feuerwehr eine Nacht lang reichlich zu tun gehabt hatten.
Jetzt herrschte in der Stadt wieder einigermaßen Ruhe und Ordnung. Aber wie lange noch?
Ein zerlumpter Mann hielt an einer Straßenecke vor etwa zwanzig Menschen eine Rede. Corinth hörte ihn sagen: »... weil wir die ewigen Grundsätze des Lebens vergessen haben, weil wir den Wissenschaftlern vertraut haben, weil wir alle ihrem Beispiel gefolgt sind. Aber ich bringe euch die Botschaft des zurückgekehrten ...«
Corinth machte einen weiten Bogen um die Versammlung. War das ein Missionar der Sekte des Dritten Baals? Er wußte es nicht, hatte aber auch keine Lust, länger zuzuhören. Nirgendwo ein Polizist, an den er sich hätte wenden können. Wenn die neue Sekte hier viele Anhänger fand, stand New York einiges bevor.
Ein Taxi raste auf zwei Rädern um eine Ecke, streifte einen geparkten Wagen und fuhr weiter. Ein anderer Wagen rollte langsam die Straße entlang; der Fahrer wurde von einem Mann bedroht, der eine Pistole in der Hand hielt. Die Rolläden der Geschäfte waren heruntergelassen; ein kleiner Laden war geöffnet, aber der Besitzer trug einen Revolver im Gürtel. Auf den Treppen eines Appartementhauses saß ein alter Mann und las selbstvergessen Kants Kritik der reinen Vernunft.
»Mister, ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.«
Corinth starrte den Mann an, der plötzlich aus einem Hauseingang aufgetaucht war. »Tut mir leid«, antwortete er, »ich habe selbst nur zehn Dollar bei mir. Bei den augenblicklichen Preisen genügt das kaum für ein Mittagessen.«
»Ich finde aber keine Arbeit und muß ...«
»Sind Sie schon im Rathaus gewesen? Dort gibt es Arbeit und warmes Essen. Jeder wird eingestellt.«
»Glauben Sie, daß ich für die Stadt arbeite, Mister?« fragte der andere wütend. »Etwa als Müllmann, Straßenkehrer oder Lastwagenfahrer? Lieber verhungere ich!«
»Von mir aus«, antwortete Corinth aufgebracht und ging rascher weiter. Er griff nach dem Revolver in seiner Manteltasche und fühlte sich erst wieder sicher, als der Mann weit hinter ihm zurückblieb. Für Menschen dieser Art empfand er keinerlei Mitgefühl.
Konnte man allerdings überhaupt etwas anderes erwarten? Diese Menschen hatten jahrelang die gleiche langweilige Arbeit in dem gleichen Büro verrichtet, ohne zu ahnen, daß es im Leben auch andere Dinge als immer größere Autos, komfortabel eingerichtete Wohnungen und modische Kleidung gab. Aber dann waren sie plötzlich fast über Nacht wesentlich intelligenter geworden. Die Menschen erkannten, wie unzulänglich ihr Leben bisher gewesen war, wie eintönig und primitiv ihre Arbeit und ihre Freizeitgestaltung gewesen waren. Und nach dieser Erkenntnis resignierten sie.
Selbstverständlich nicht alle – nicht einmal die Mehrzahl. Aber doch so viele, daß die gesamte Struktur einer technisierten Zivilisation vor dem Zusammenbruch stand. Wenn keine Kohle mehr gefördert wurde, konnten die Arbeiter in den Eisenhütten und den Maschinenfabriken nicht mehr arbeiten, selbst wenn sie es gewollt hätten. Und von ihrer Arbeit hingen wieder andere Industriezweige ab ...
Das Institut war im Vergleich zu den Straßen fast ein Paradies auf Erden. Als Corinth die Eingangshalle betrat, sah er dort einen Wachtposten sitzen: eine
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