Die Macht des Zweifels
darüber nach, Mr. Brown«, fordert Richter Neal ihn auf.
»Das habe ich bereits, Euer Ehren, glauben Sie mir.«
Fisher blickt mich an, und ich weià genau, was er vorhat. Seine Augen sind dunkel vor Mitgefühl, aber er wartet auf mein Nicken, bevor er sich wieder an den Richter wendet. »Euer Ehren, wenn die Staatsanwaltschaft sich so wenig entgegenkommend zeigt, verlangen wir eine Anhörung zur Feststellung der Verhandlungsfähigkeit des Jungen. Es geht hier um ein Kind, das in den vergangenen sechs Wochen zweimal verstummt ist.«
Der Richter wird den Kompromià liebend gern annehmen, das weià ich. Ich weià auch, daà Fisher von allen Strafverteidigern, die ich bisher bei solchen Anhörungen erlebt habe, am einfühlsamsten mit Kindern umgeht. Doch diesmal wird er das nicht tun. Denn um Nathaniel vor der Seelenqual eines Gerichtsprozesses zu bewahren, muà er erreichen, daà der Richter den Jungen für verhandlungsunfähig erklärt. Und das schafft er nur, wenn er es bewuÃt darauf anlegt, daà Nathaniel förmlich zusammenbricht.
Fisher seufzt. Seine Verteidigungsstrategie, Nina als unzurechnungsfähig erklären zu lassen â zunächst pure Erfindung â, kommt der Wirklichkeit nämlich immer näher. Um einen kompletten Zusammenbruch nach der Anhörung wegen des Antrags heute morgen zu vermeiden, hatte er sie zum Lunch in ein schickes Restaurant eingeladen, wo sie eher ihre Selbstbeherrschung wahren würde. Er lieà sich von ihr erklären, welche Fragen der Staatsanwalt Nathaniel voraussichtlich stellen würde, Fragen, die sie selbst schon tausend Kindern gestellt hat.
Jetzt am Abend ist das Gerichtsgebäude dunkel und bis auf das Wachpersonal, Caleb, Nathaniel und Fisher leer. Sie gehen leise den Korridor hinunter, Nathaniel auf dem Arm seines Vaters.
»Er ist ein biÃchen nervös«, sagt Caleb und räuspert sich.
Fisher geht nicht auf die Bemerkung ein. Er könnte genausogut in dreitausend Metern Höhe über ein Drahtseil balancieren. Er will den Jungen auf gar keinen Fall grob behandeln, aber er kann ihn auch nicht mit Samthandschuhen anfassen, denn wenn Nathaniel sich bei der Anhörung allzu wohl fühlt, könnte er für verhandlungsfähig befunden werden. So oder so wird Nina ihm den Kopf abreiÃen.
Im Gerichtssaal schaltet Fisher die Deckenlampen ein. Sie summen und tauchen den Raum dann in grelles Licht. Nathaniel drückt sich enger an seinen Vater.
»Nathaniel«, sagt Fisher knapp. »Du muÃt dich jetzt auf den Hocker da setzen. Dein Vater wird hier hinten im Raum bleiben. Er darf nichts zu dir sagen, und du darfst nichts zu ihm sagen. Du muÃt einfach meine Fragen beantworten. Hast du verstanden?«
Der Junge hat die Augen weit aufgerissen. Er folgt Fisher zum Zeugenstand und klettert auf den Hocker. »Komm noch mal kurz wieder runter.« Fisher nimmt den Hocker heraus und stellt einen niedrigen Stuhl hinein. Jetzt schaut Nathaniels Stirn nicht einmal über den Rand des Zeugenstandes hinweg.
»Ich ⦠ich kann nichts sehen«, flüstert Nathaniel.
»Das muÃt du auch nicht.«
Fisher will gerade einige Ãbungsfragen stellen, als ein Geräusch ihn ablenkt â Caleb sammelt die paar hohen Hocker im Saal ein und stellt sie an der Flügeltür auf. »Ich dachte, vielleicht ist es ⦠besser, wenn die morgen früh nicht hier sind.« Er blickt Fisher in die Augen.
Der Anwalt nickt. »Ja. Vielleicht kann der Hausmeister sie irgendwo verstauen.«
Als er sich wieder zu dem Jungen umdreht, kann er sich ein Lächeln kaum verkneifen.
Jetzt weià Nathaniel, warum Mason immer versucht, sich das Halsband abzustreifen â das Ding, das sich Fliege nennt, obwohl es ganz anders aussieht, schnürt ihm die Luft ab. Er zieht wieder daran, und prompt hält sein Vater seine Hand fest. Er hat Schmetterlinge im Bauch, und er wäre jetzt lieber in der Schule bei Miss Lydia. Hier starren ihn bloà alle an. Hier will jeder, daà er über Sachen redet, die er nicht aussprechen will.
Nathaniel umklammert seine Stoffschildkröte Franklin noch fester. Die geschlossenen Türen des Gerichtssaals öffnen sich mit einem Seufzen, und ein Mann, der aussieht wie ein Polizist, aber keiner ist, winkt sie herein. Nathaniel geht ängstlich über den langen roten Teppich. Der Raum ist nicht so gruselig wie gestern abend im Dunkeln, aber
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