Die Macht des Zweifels
â die Tränen kommen von ganz allein. Nathaniel macht sich auf dem Stuhl ganz klein, ist im Zeugenstand kaum noch zu sehen. Fisher und Brown gehen zur Bank des Richters, der sichtlich verärgert ist. »Mr. Brown«, sagt er. »Sie sehen ja selbst, was Sie da angerichtet haben. Aber Sie wollten den Jungen ja unbedingt aussagen lassen, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Unterstehen Sie sich, eine erneute Befragung zu beantragen.«
»Sie haben recht, Euer Ehren«, erwidert der Mistkerl. »Ich sehe ein, daà der Junge offensichtlich nicht aussagen sollte.«
Der Richter schlägt mit seinem Hammer. »Das Gericht hat entschieden, daà Nathaniel Frost nicht prozeÃtauglich ist. Der Antrag auf Zeugenladung wird abgewiesen.« Er wendet sich an meinen Sohn. »Nathaniel, du darfst jetzt wieder zu deinem Dad.«
Nathaniel springt vom Stuhl und saust aus dem Zeugenstand. Ich denke, er will zu Caleb, der hinten im Saal sitzt, doch statt dessen läuft er direkt auf mich zu. Er schlingt die Arme um meine Taille, preÃt allen Atem aus mir heraus, den ich unwillkürlich angehalten habe.
Ich warte, bis Nathaniel aufblickt, verängstigt durch die Gesichter in dieser fremden Welt â der Sekretär, der Richter, die Gerichtsschreiberin und der Staatsanwalt. »Nathaniel«, sage ich atemlos zu ihm, und er blickt mich an. »Du warst der beste Zeuge, den ich hätte haben können.«
Ãber seinen Kopf hinweg fange ich Quentin Browns Blick auf. Und lächele.
Als Patrick Nathaniel Frost kennenlernte, war der Junge sechs Monate alt. Patricks erster Gedanke war, daà der Kleine seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Sein zweiter Gedanke war, daà er jetzt den Grund auf dem Arm hielt, warum sie nie zusammen sein würden.
Patrick bemühte sich um ein besonders enges Verhältnis zu Nathaniel, obwohl es manchmal so schmerzlich für ihn war, daà er nach einem Besuch noch Tage später darunter litt. Aber Patrick â der Nina geliebt hatte, solange er denken konnte â mochte den Jungen wirklich und vernarrte sich ebenso bedingungslos in ihn wie in seine Mutter.
Der Uhrzeiger hat sich seit zwei Stunden nicht bewegt, da ist Patrick sicher. Im Augenblick ist Nathaniel in der Anhörung, in der seine Verhandlungsfähigkeit festgestellt werden soll. Dabei dürfte Patrick nicht anwesend sein, selbst wenn er wollte. Und er will nicht. Weil auch Nina dabei ist, und er hat sie seit Heiligabend weder gesehen noch gesprochen.
Was nicht heiÃt, daà er das nicht möchte. Herrgott, er kann an nichts anderes denken als an Nina â wie sie sich anfühlte, wie sie schmeckte, wie sie sich im Schlaf an ihn schmiegte. Aber Patrick weiÃ, daà jedes Wort, das zwischen ihnen fallen würde, seine Erinnerung nur trüben würde. Und Patrick hat nicht Angst vor dem, was Nina zu ihm sagen würde â er hat Angst vor dem, was sie nicht sagen würde. Daà sie ihn liebt, daà sie ihn braucht, daà es ihr genausoviel bedeutet hat wie ihm.
Er stützt den Kopf auf die Hände. Tief in seinem Innern weià er auch, daà es ein schwerer Fehler war. Patrick möchte es sich von der Seele reden, seine Zweifel einem Menschen gestehen, der ihn instinktiv verstehen würde. Aber er hat nur eine Vertraute, eine beste Freundin, Nina. Wenn sie das nicht mehr sein kann ⦠und auch nicht ihm gehören kann ⦠was bleibt ihnen beiden dann noch?
Mit einem tiefen Seufzer greift er zum Telefon auf seinem Schreibtisch und wählt eine Nummer. Er will eine Lösung, ein Geschenk für Nina, bevor er im Zeugenstand gegen sie aussagen muÃ. Farnsworth McGee, sein Kollege in Belle Chasse, Louisiana, meldet sich nach dem dritten Klingeln. »Hallo?«
»Detective-Lieutenant Ducharme aus Biddeford, Maine«, sagt Patrick. »Was Neues über Gwynne?«
Patrick sieht den Polizeichef förmlich vor sich. Er hat ihn vor seiner Abreise aus Belle Chasse kennengelernt. Gut zwanzig Kilo Ãbergewicht, schwarzes Haar mit einer Elvis-Tolle. »Ihr im Norden müÃt kapieren, daà wir es hier unten vorsichtig angehen. Nur nichts überstürzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Patrick beiÃt die Zähne zusammen. »Haben Sie ihn festgenommen oder nicht?«
»Ihre Vorgesetzten sprechen noch mit unseren Vorgesetzten, Detective. Glauben Sie mir, Sie werden es als erster erfahren, wenn was
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