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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Glut im Kamin an und versucht, den Morgen kraft seiner Gedanken zu vertreiben.
    Aber der Morgen wird kommen, und mit ihm die Erklärungen. Und trotz der Tatsache, daß er Nina besser kennt als sie sich selbst, weiß er nicht, für welche Entschuldigung sie sich entscheiden wird. Sie hat es sich zum Beruf gemacht, die Missetaten anderer zu beurteilen. Und ganz gleich, welches Argument sie anführen wird, in seinen Ohren würden sie alle gleich klingen: Das hätte nicht passieren dürfen; es war ein Fehler .
    Es gibt nur eines, was Patrick aus ihrem Munde hören möchte, und das ist sein Name.
    Alles andere würde die Nacht nur in Frage stellen, und Patrick will sie unversehrt bewahren. Deshalb zieht er behutsam seinen Arm unter der köstlichen Schwere von Ninas Kopf hervor. Er küßt sie auf die Schläfe, er amtet sie noch einmal tief ein. Er läßt sie los, ehe sie Gelegenheit hat, ihn loszulassen.

    Das Zelt, das wieder aufrecht steht, ist das erste, was ich bemerke. Das zweite ist Patricks Abwesenheit. Irgendwann, während ich unglaublich tief geschlafen habe, hat er mich verlassen.
    Wahrscheinlich ist es besser so.
    Als ich die Spuren unserer Feier von letzter Nacht weggeräumt und geduscht habe, bin sich selbst schon fast der Überzeugung, daß das tatsächlich stimmt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, Patrick je wieder zu sehen, ohne an das Bild zu denken, wie er über mich gebeugt war und sein schwarzes Haar mein Gesicht streifte. Und ich glaube nicht, daß der Frieden in mir, der wie Honig durch meine Adern fließt, dem Weihnachtsfest zuzuschreiben ist.
    Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt .
    Aber habe ich das wirklich? Hält sich das Schicksal an irgendwelche Regeln? Zwischen ich sollte und ich will tut sich ein gewaltiger Ozean auf, und ich ertrinke darin.
    Es klingelt an der Tür, und ich springe von der Couch auf, wische mir rasch über die Augen. Patrick, der vielleicht Kaffee gekauft hat oder Bagels. Wenn er sich entscheidet zurückzukommen, trifft mich keine Schuld. Selbst wenn ich es mir gewünscht habe.
    Doch als ich die Tür öffne, steht Caleb auf der Veranda, mit Nathaniel vor ihm. Das Lächeln meines Sohnes ist strahlender als das Gleißen des Schnees in der Einfahrt, und einen verschreckten Moment lang spähe ich über Calebs Schulter hinweg, um nachzusehen, ob die Spuren von Patricks Wagen vom Schnee zugeweht worden sind. Kann man Schuld wittern, wie einen Duft auf der Haut? »Mommy!« ruft Nathaniel.
    Ich hebe ihn hoch in die Luft, ergötze mich an seinem Gewicht. Das Herz flattert mir wie ein Kolibri in der Kehle. »Caleb.«
    Er sieht mich nicht an. »Ich bleibe nicht.«
    Also ein Gnadenbesuch. In wenigen Minuten wird Nathaniel wieder fort sein. Ich drücke ihn fester an mich.
    Â»Frohe Weihnachten, Nina«, sagt Caleb. »Ich hole ihn morgen wieder ab.« Er nickt mir zu und geht dann die Verandastufen hinunter. Nathaniel plappert aufgeregt auf mich ein, und seine Freude umhüllt uns warm, als der Pick-up abfährt. Ich studiere die Fußspuren, die Caleb auf der verschneiten Einfahrt hinterlassen hat, als wären sie Indizien, der verblüffende Beweis für einen Geist, der kommt und geht.

III

    Unsere Tugenden sind meist nur verborgene Laster.
    François, Duc de la Rochefoucauld

Heute hat uns Miss Lydia in der Pause etwas ganz Besonderes zu essen gegeben.
    Zuerst ein Blatt grünen Salat mit einer Rosine drauf. Das sollte das Ei sein.
    Dann eine Mozzarella-Raupe.
    Danach kam eine Chrysalis, eine Traube.
    Zum Schluß gab es ein Stück Zimtbrot, das die Form eines Schmetterlings hatte.
    Dann sind wir nach draußen gegangen und haben die Chrysippusfalter freigelassen, die in unserer Klasse zur Welt gekommen waren. Einer landete auf meinem Handgelenk. Er sah jetzt anders aus, aber ich wußte genau, daß er die Raupe war, die ich eine Woche vorher gefunden und Miss Lydia geschenkt hatte. Dann ist er in die Sonne geflogen.
    Manchmal verändern sich Dinge so schnell, daß es mir tief drin im Hals weh tut.

7
    Â»Nein«, sage ich zu Fisher. Wir sind auf unserem Spaziergang stehengeblieben; die kalte Januarluft kriecht mir den Mantel hoch. Ich gebe ihm brüsk das Blatt Papier zurück, als ob der Name meines Sohnes von der Zeugenliste verschwinden würde, wenn ich ihn nicht mehr sehe.
    Â»Nina, das entscheiden nicht Sie«, sagt er sanft. »Nathaniel wird

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