Die Macht des Zweifels
verlor. In dem Moment, als sie Pater Szyszynski die Waffe an den Kopf hielt, konnte sie sich nicht mehr durch ihre Vernunft davon abhalten, ihn zu erschieÃen â es war ein unwillkürlicher Reflex.«
Die Geschworenen hören ihm zu, wenigstens das. Einige von ihnen trauen sich sogar, mir verstohlene Blicke zuzuwerfen. Ich versuche, eine Miene irgendwo zwischen Reue und Untröstlichkeit aufzusetzen.
»Dr. OâBrien, wann haben Sie Mrs. Frost das letzte Mal gesehen?«
»Vor einer Woche.« OâBrien lächelt mich milde an. »Sie fühlt sich jetzt besser in der Lage, ihren Sohn zu schützen, und ihr ist klar, daà ihre Handlungsweise nicht richtig war. Sie bereut ihre Tat.«
»Leidet Mrs. Frost noch immer an einer posttraumatischen Belastungsstörung?«
»Eine solche Störung ist nicht wie Windpocken, die abheilen und nie wiederkommen. Meiner Meinung nach ist Mrs. Frost jedoch jetzt soweit, ihre Gefühle und Gedanken zu verstehen, so daà sie ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert ist. Mit Hilfe einer anschlieÃenden ambulanten Therapie wird sie wieder ein normales Leben führen können.«
Diese Lüge kostet Fisher â und somit mich â zweitausend Dollar. Aber sie ist es wert: Etliche Geschworene nicken. Vielleicht wird Ehrlichkeit ja überbewertet. Unbezahlbar ist dagegen die Möglichkeit, aus einem Meer von Unehrlichkeiten diejenigen herauszufischen, die man am meisten braucht.
Nathaniel tun die FüÃe weh, und seine Zehen in den Stiefeln sind schon ganz taub vor Kälte. Er hat seine Fäustlinge im Spielzimmer gelassen, deshalb sind seine Fingerspitzen schon rosa geworden, obwohl er sie tief in die Jackentaschen geschoben hat. Wenn er laut zählt, um sich irgendwie zu beschäftigen, bleiben die Zahlen vor ihm in der Luft hängen, erstarrt vor Kälte.
Weil er weiÃ, daà er das nicht tun darf, klettert er über die Leitplanke und läuft zur Mitte des Highway. Ein Bus braust vorbei, und seine Hupe gellt laut, bevor er schlingernd in der Ferne verschwindet.
Nathaniel breitet die Arme aus, um besser das Gleichgewicht halten zu können, und fängt an, auf der gestrichelten Mittellinie zu balancieren.
»Dr. OâBrien«, sagt Quentin Brown. »Sie sind der Auffassung, daà Mrs. Frost ihren Sohn jetzt schützen kann?«
»Ja.«
»Also gegen wen wird sie dann als nächstes eine Waffe richten?«
Der Psychiater verändert seine Sitzhaltung. »Ich kann jetzt eine derart extreme Reaktion bei ihr ausschlieÃen.«
Der Staatsanwalt spitzt nachdenklich die Lippen. »Vielleicht jetzt. Aber wie sieht das in zwei Monaten aus ⦠in zwei Jahren? Nehmen wir an, ein Kind auf dem Spielplatz bedroht ihren Sohn. Oder ein Lehrer behandelt ihn ungerecht. Könnte es sein, daà sie für den Rest ihres Lebens die Rächerin spielt?«
OâBrien zieht die Augenbrauen hoch. »Mr. Brown, es ging nicht darum, daà ein Lehrer ihren Sohn ungerecht behandelt hat. Das Kind wurde sexuell miÃbraucht. Sie glaubte zu wissen, wer es getan hatte. AuÃerdem habe ich erfahren, daà der wahre Täter gefunden wurde und inzwischen eines natürlichen Todes gestorben ist, daher hat sie also keinen vermeintlichen Feldzug mehr zu führen.«
»Dr. OâBrien, Sie hatten das Gutachten des Psychiaters der Gegenseite vorliegen. Wie erklären Sie es sich, daà Ihr Kollege Mrs. Frosts psychischen Zustand völlig anders einschätzt? Daà er sie nicht bloà für verhandlungsfähig erklärt hat, sondern daà er von ihrer Zurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat ausgeht?«
»Ja, der Befund von Dr. Storrow ist mir bekannt. Aber es ist sein erstes Gutachten für ein Gericht. Ich dagegen bin seit über vierzig Jahren Gerichtspsychiater.«
»Und Sie sind nicht gerade billig, nicht wahr?« sagt Brown. »Trifft es nicht zu, daà die Verteidigung Sie für Ihre heutige Aussage bezahlt?«
»Mein Honorarsatz beträgt zweitausend Dollar pro Tag plus Spesen«, antwortet OâBrien mit einem Achselzucken.
Ein Raunen geht durch den Zuschauerraum. »Dr. OâBrien, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie die Formulierung benutzt, Mrs. Frost habe die Kontrolle verloren. Ist das richtig?«
»Das ist natürlich kein Fachterminus, aber in einem Gespräch würde ich es so ausdrücken.«
»Hat sie die
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