Die Macht des Zweifels
Kontrolle verloren, bevor oder nachdem sie zu dem Waffengeschäft gefahren war?« fragt Brown.
»Das war eindeutig der Beginn ihres psychischen Zusammenbruchs â«
»Hat sie die Kontrolle verloren, bevor oder nachdem sie eine Neunmillimeter-Automatikpistole mit sechs Patronen geladen hatte?«
»Wie bereits gesagt, das war â«
»Hat sie die Kontrolle verloren, bevor oder nachdem sie an dem Metalldetektor vorbeigegangen war, weil sie wuÃte, daà der Sicherheitsbeamte sie nicht aufhalten würde?«
»Mr. Brown â«
»Und, Dr. OâBrien, hat sie die Kontrolle verloren, bevor oder nachdem sie einem Menschen, und zwar nur einem ganz bestimmten Menschen, in einem voll besetzten Gerichtssaal die Waffe an den Kopf gehalten und abgedrückt hatte?«
OâBriens Mund wird schmal. »Wie ich schon erläutert habe, hatte Mrs. Frost zu dem Zeitpunkt keine Kontrolle mehr über ihr Verhalten. Sie konnte sich selbst genausowenig davon abhalten, den Priester zu erschieÃen, wie sie sich davon hätte abhalten können zu atmen.«
»Allerdings ist es ihr gelungen, jemand anderes vom Atmen abzuhalten.« Brown geht zu den Geschworenen hinüber. »Sie sind Experte für posttraumatische Belastungsstörungen, nicht wahr?«
»Ich gelte auf dem Gebiet als kompetent, ja.«
»Und eine posttraumatische Belastungsstörung wird immer durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst?«
»Das ist richtig.«
»Sie sind Mrs. Frost nach dem Tod von Pater Szyszynski zum ersten Mal begegnet?«
»Ja.«
»Und Sie glauben«, sagt Brown, »daà ihre Belastungsstörung durch den an ihrem Sohn begangenen sexuellen MiÃbrauch ausgelöst wurde?«
»Ja.«
»Woher wissen Sie, daà nicht die Ermordung des Priesters der Auslöser war?«
»Das wäre möglich«, gibt OâBrien zu. »Aber das andere Trauma war zuerst da.«
»Stimmt es, daà Vietnam-Veteranen ihr ganzes Leben lang an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden können? Daà diese Männer noch dreiÃig Jahre später Alpträume haben?«
»Ja.«
»Dann können Sie doch hier nicht mit wissenschaftlicher GewiÃheit behaupten, daà die Angeklagte diese Krankheit überwunden hat, die der Grund dafür war, daà sie â um es mit ihren Worten auszudrücken â die Kontrolle verlor. Hab ich recht?«
Hinten im Saal werden Stimmen laut. Ich konzentriere mich auf das Geschehen vor mir.
»Ich bezweifle, daà Mrs. Frost die Ereignisse der letzten Monate je vergessen wird«, sagt OâBrien diplomatisch. »Aber ich bin der Auffassung, daà sie jetzt keine Gefahr mehr darstellt ⦠und auch in Zukunft nicht.«
»Tja, Dr. OâBrien«, sagt Brown, »Sie tragen ja auch keinen Priesterkragen.«
»Bitte«, ruft eine vertraute Stimme, und dann reiÃt sich Monica von dem Gerichtsdiener los, der sie festgehalten hat, und kommt den Mittelgang heruntergelaufen. Allein. Neben Caleb geht sie in die Knie. »Nathaniel ist verschwunden«, schluchzt sie.
Der Richter ist mit einer Unterbrechung der Verhandlung einverstanden, und die Gerichtsdiener im Saal werden losgeschickt, um nach Nathaniel zu suchen. Patrick verständigt den Sheriff und seine Kollegen. Fisher geht die Medienvertreter beruhigen, die von dem neuen Problem Wind bekommen haben und nach Informationen gieren.
Ich kann nirgendwohin, weil ich noch immer das verdammte elektronische Armband trage.
Ich male mir aus, daà Nathaniel entführt worden ist. Wie er in irgendeinen Güterwaggon klettert und dort erfriert. Wie er sich unbemerkt auf ein Schiff schleicht. Er könnte bis ans Ende der Welt reisen, und ich säÃe noch immer eingesperrt in diesen vier Wänden.
»Er hat gesagt, er müÃte zum Klo«, stammelt Monica unter Tränen. Wir warten in der Eingangshalle, aus der die Reporter verdrängt worden sind. Ich weiÃ, daà sie Absolution haben möchte, aber ich denke nicht dran, sie ihr zu erteilen. »Ich hab gedacht, ihm ist vielleicht übel, weil er so lange gebraucht hat. Aber als ich dann reingegangen bin, stand das Fenster offen.« Sie greift meinen Ãrmel. »Ich glaube nicht, daà ihn jemand mitgenommen hat, Nina. Ich glaube, er will bloà auf sich aufmerksam machen.«
»Monica.« Ich klammere mich an den letzten Rest Selbstbeherrschung.
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