Die Macht des Zweifels
das jetzt doch nicht mehr möchte.
»Ich muà mal«, verkündet Nathaniel.
»Kein Problem.« Monica legt das Buch beiseite, aus dem sie ihm vorgelesen hat, steht auf und wartet, daà Nathaniel ihr zur Tür folgt. Gemeinsam gehen sie den Flur hinunter zu den Toiletten. Nathaniels Mutter läÃt ihn normalerweise nicht allein auf die Jungentoilette, aber hier macht das nichts, weil es nur eine Kabine gibt und Monica nachsehen kann, ob die leer ist, bevor er reingeht. »Wasch dir hinterher die Hände«, ermahnt sie ihn und hält ihm die Tür auf.
Nathaniel setzt sich auf den kalten Toilettensitz und grübelt. Er hat zugelassen, daà Pater Gwynne diese Sachen mit ihm gemacht hat â und das war böse. Er war böse. Aber er ist nicht dafür bestraft worden. Im Gegenteil, seit er so böse gewesen ist, sind alle immerzu ganz besorgt und besonders nett zu ihm.
Seine Mutter hat auch irgendwas Böses gemacht â um alles, was passiert ist, wieder in Ordnung zu bringen, sagt sie.
Nathaniel will das alles verstehen, aber in seinem Kopf ist ein einziges Durcheinander. Er weià nur, daà die Welt auf dem Kopf steht. Die Leute brechen Regeln, aber sie werden dafür nicht ausgeschimpft, nein, denn nur so können sie alles wieder in Ordnung bringen.
Er zieht sich die Hose hoch, macht seine Jacke unten zu und drückt auf die Spülung. Dann klappt er den Klodeckel runter und klettert auf den Spülkasten und von dort zu dem kleinen Sims hoch. Das Fenster ist klein, weil das hier ja das Kellergeschoà ist. Aber Nathaniel kriegt es auf, und so klein, wie er ist, kann er hindurchschlüpfen.
Jetzt ist er hinter dem Gerichtsgebäude, in einem der kleinen Fensterschächte. Er klettert hinaus, geht zwischen den Lieferwagen und Vans auf dem Parkplatz hindurch, überquert den gefrorenen Rasen. Dann marschiert er ziellos am Highway entlang, ohne daà ein Erwachsener ihn an der Hand hätte, und mit dem Vorsatz wegzulaufen.
»Dr. OâBrien«, sagt Fisher, »wann ist Mrs. Frost zum ersten Mal bei Ihnen gewesen?«
»Am zwölften Dezember.« Mit seinen silbernen Schläfen und seiner legeren Ausstrahlung könnte der Psychiater glatt Fishers Bruder sein.
»Welche Materialien standen Ihnen vor dem Gespräch mit ihr zur Verfügung?«
»Ein Schreiben von Ihnen, eine Kopie des Polizeiberichts, das Videoband vom Fernsehsender und das psychiatrische Gutachten von Dr. Storrow, dem Sachverständigen der Anklagevertretung, der sie zwei Wochen zuvor untersucht hatte.«
»Wie lange dauerte Ihr erstes Gespräch mit Mrs. Frost?«
»Eine Stunde.«
»In welchem psychischen Zustand befand sie sich?«
»Im Mittelpunkt des Gesprächs stand ihr Sohn. Sie war sehr um seine Sicherheit besorgt«, sagt OâBrien. »Ihr Kind hatte die Sprache verloren, was sie schrecklich beunruhigte. Sie fühlte sich schuldig, weil sie als berufstätige Mutter nicht mitbekommen hatte, was passiert war. AuÃerdem kannte sie als Anwältin, die häufig mit Fällen von sexuellem MiÃbrauch zu tun hatte, die Auswirkungen solcher Taten auf die Kinder ⦠und hatte vor allem groÃe Angst, daà ihr Sohn durch einen Gerichtsprozeà ein schweres Trauma erleiden könnte. In Anbetracht der Umstände, die Mrs. Frost zu mir geführt hatten, und nach meinem Gespräch mit ihr kam ich zu dem SchluÃ, daà sie die klassischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufwies.«
»Inwiefern könnte sich das auf ihre psychische Stabilität am Morgen des dreiÃigsten Oktober ausgewirkt haben?«
OâBrien beugt sich vor und spricht die Geschworenen an. »Mrs. Frost wuÃte, daà sie im Gericht den Mann sehen würde, der ihren Sohn miÃbraucht hatte. Sie war fest davon überzeugt, daà ihr Sohn durch den MiÃbrauch einen nachhaltigen psychischen Schaden erlitten hatte. Sie war überzeugt, daà es für ihr Kind katastrophale Folgen haben würde, wenn es aussagen müÃte â ob als Zeuge oder auch nur bei einer Anhörung zur Feststellung der Verhandlungsfähigkeit. Und schlieÃlich war sie überzeugt, daà der Täter letztlich wieder freikommen würde. Das alles ging ihr auf der Fahrt zum Gericht durch den Kopf, und sie geriet in eine zunehmend aufgewühlte Verfassung und war immer weniger sie selbst, bis sie schlieÃlich die Kontrolle
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