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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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füllt sie das Formular für mich aus, und ich mache meine Angaben mit einer Stimme, die ich selbst nicht wiedererkenne.
    Richter Bartlett empfängt mich in seinem Amtszimmer. »Nina.« Er kennt mich, alle kennen sie mich. »Was kann ich für Sie tun?«
    Ich halte ihm das Formular hin und hebe das Kinn. Atmen, sprechen, konzentrieren . »Ich reiche diesen Antrag für meinen Sohn ein, Euer Ehren. Es wäre mir lieber, wenn ich es nicht öffentlich vor Gericht tun müßte.«
    Die Augen des Richters fixieren mich eine Sekunde lang, dann nimmt er mir das Blatt aus der Hand. »Wie ist die Sachlage?« fragt er vorsichtig.
    Â»Es wurden an seinem Körper Spuren sexuellen Mißbrauchs festgestellt.« Ich bin darauf bedacht, Nathaniels Namen nicht auszusprechen. Das könnte ich nicht ertragen. »Und heute hat er seinen Vater als den Täter identifiziert.« Seinen Vater , nicht meinen Mann .
    Â»Und Sie?« fragt Richter Bartlett. »Kommen Sie zurecht?«
    Ich schüttele den Kopf, die Lippen fest aufeinandergepreßt.
    Â»Falls ich irgend etwas für Sie tun kann«, murmelt der Richter. Aber er kann nichts tun, niemand kann das.
    Der Richter kritzelt seine Unterschrift auf das Formular. »Sie wissen, daß das hier nur vorübergehend ist. Wir müssen innerhalb von zwanzig Tagen eine Anhörung durchführen.«
    Â»Dann habe ich immerhin zwanzig Tage, um mich mit der Situation auseinanderzusetzen.«
    Er nickt. »Es tut mir leid, Nina.«
    Mir auch. Es tut mir leid, daß ich nicht gesehen habe, was sich direkt vor meiner Nase abgespielt hat. Daß ich nicht wußte, wie ich ein Kind im richtigen Leben schütze, sondern nur in unserem Rechtssystem. Und auch, daß ich eine einstweilige Verfügung beantragen mußte, die mir auf der ganzen Fahrt zurück zu meinem Sohn wie Feuer in der Tasche brennt.

Zu Hause gelten folgende Regeln:
    Morgens das Bett machen. Zweimal am Tag Zähne putzen. Den Hund nicht an den Ohren ziehen. Das Gemüse aufessen, auch wenn es nicht so gut schmeckt wie die Spaghetti.

    In der Schule gelten folgende Regeln:
    Nicht an der Rutsche hochklettern. Nicht vor der Schaukel hergehen, wenn gerade einer schaukelt. Die Hand heben, wenn man in der Runde etwas sagen will. Jeder kommt beim Spielen mal an die Reihe. Beim Malen immer einen Kittel anziehen.

    Ich kenne noch andere Regeln:
    Im Auto anschnallen.
    Nicht mit Fremden sprechen.
    Nichts verraten, sonst kommst du in die Hölle.

3
    Das Leben geht wider Erwarten weiter. Es gibt kein kosmisches Gesetz, das Schutz vor Alltäglichkeiten gewährt, nur weil man gerade eine Katastrophe durchlebt. Die Mülleimer quellen weiterhin über, die Rechnungen kommen mit der Post, lästige Anrufer stören beim Abendessen.
    Nathaniel kommt ins Badezimmer, als ich gerade den Verschluß wieder auf die Hämorrhoidensalbe schraube. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß man sie sich in die Haut rund um die Augen massieren soll, damit die Schwellung zurückgeht und die Rötung abklingt. Ich drehe mich mit einem so strahlenden Lächeln zu ihm um, daß er zurückweicht. »Hallo Schätzchen. Hast du dir die Zähne geputzt?« Er nickt, und ich nehme seine Hand. »Dann lesen wir jetzt noch ein bißchen.«
    Nathaniel krabbelt in sein Bett wie jeder Fünfjährige – es ist ein Dschungel, und er ist ein Affe. Dr. Robichaud hat gesagt, daß Kinder schnell in die Normalität zurückfinden, schneller als ihre Eltern. Ich klammere mich an diese Erklärung, als ich das Buch aufschlage – es handelt von einem Piraten, der auf einem Auge blind ist und deshalb nicht sehen kann, daß der Papagei auf seiner Schulter in Wahrheit ein Pudel ist. Ich schaffe die ersten drei Seiten, dann unterbricht Nathaniel mich, legt die gespreizte Hand auf die bunten Bilder. Sein Zeigefinger wackelt, und dann hält er wieder die Hand an die Stirn, macht ein Zeichen, das ich am liebsten nie wieder sehen würde.
    Wo ist Daddy?
    Ich lege das Buch auf den Nachttisch. »Nathaniel, er kommt heute abend nicht nach Hause.« Er kommt überhaupt nicht mehr nach Hause, denke ich.
    Er zieht die Stirn kraus. Er weiß noch nicht, wie man warum mit den Händen fragt. Denkt er, daß er für Calebs Verschwinden verantwortlich ist? Ist ihm für den Fall, daß er alles verrät, irgendeine Art von Bestrafung angedroht worden?
    Ich halte seine Hände

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