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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Psychiaterin mit einem Holzzug.
    Als die Sozialarbeiterin mich ansieht, weiß ich, daß sie schon die ganze Zeit über den Verdacht hatte. Und ich kann es ihr nicht verdenken. An ihrer Stelle hätte ich dasselbe gedacht.
    Meine Stimme klingt alt, nackt. »Ist die Polizei verständigt worden?«
    Monica nickt. »Wenn ich irgendwas für Sie tun kann …«
    Ich habe etwas zu erledigen, und dabei kann ich Nathaniel nicht mitnehmen. Es schmerzt, die Frage stellen zu müssen. »Ja«, sage ich. »Könnten Sie auf meinen Sohn aufpassen?«

    Ich finde ihn auf der dritten Baustelle, wo er eine Mauer baut. Calebs Miene hellt sich auf, als er meinen Wagen erkennt. Er sieht zu, wie ich aussteige, und dann wartet er, rechnet mit Nathaniel. Das reicht, um mich vorwärts zu treiben. Als ich im Laufschritt bei ihm ankomme, schlage ich ihm mit aller Kraft ins Gesicht.
    Â»Nina!« Caleb packt meine Handgelenke. »Was soll das?«
    Â»Du Dreckskerl. Wie konntest du, Caleb? Wie konntest du?«
    Er stößt mich weg, reibt sich mit den Fingern über die Wange. »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagt Caleb. »Beruhig dich erst mal.«
    Â»Ich soll mich beruhigen?« fauche ich. »Ich glaube nicht, daß das möglich ist: Nathaniel hat uns alles gesagt. Er hat uns gesagt, was du ihm angetan hast.«
    Â»Ich habe ihm überhaupt nichts angetan.«
    Einen endlosen Moment lang sage ich kein Wort, starre ihn bloß an.
    Â»Nathaniel hat gesagt, ich … ich …«, Caleb stockt. »Das ist doch lächerlich.«
    Genau das sagen sie alle, die Schuldigen, und es gibt mir den Rest. »Wage es ja nicht, mir zu sagen, daß du ihn liebst.«
    Â»Aber natürlich!« Caleb schüttelt ungläubig den Kopf. »Ich weiß nicht, was er gesagt hat. Ich weiß nicht, warum er es gesagt hat. Aber Nina, Herrgott noch mal. Herrgott !«
    Als ich nichts erwidere, zerfallen all die Jahre, die wir gemeinsam verlebt haben, bis wir beide knietief in einem Müllhaufen von Erinnerungen stehen, die nichts mehr wert sind. Calebs Augen sind groß und feucht. »Nina, bitte. Überleg dir, was du da sagst.«
    Ich blicke nach unten auf meine Hände, eine Faust umklammert die andere. Das Zeichen für ineinander . Ineinander verliebt, verbissen, verhakt. »Ich denke, daß Kinder so etwas nicht erfinden. Daß Nathaniel das nicht erfunden hat.« Ich hebe den Blick und sehe ihn an. »Komm heute abend nicht nach Hause«, sage ich und gehe zurück zu meinem Auto, ganz ruhig, als wäre mir nicht soeben das Herz in der Brust zersprungen.

    Caleb sieht den Rücklichtern von Ninas Wagen nach, bis sie verschwunden sind. Der Staub, der hinter ihr aufgewirbelt wurde, legt sich wieder, und die Szene sieht genauso aus wie noch eine Minute zuvor. Aber Caleb weiß, daß jetzt alles anders ist. Daß es kein Zurück mehr gibt.
    Er würde alles für seinen Sohn tun. Das war schon immer so, wird immer so sein.
    Caleb blickt nach unten auf die Mauer, die er gerade errichtet. Ein Meter, und er hat fast den ganzen Tag dafür gebraucht. Während sein Sohn bei einer Psychiaterin war und die Welt auf den Kopf gestellt hat, hat Caleb Steine gehoben, sie sorgfältig aneinandergefügt. Einmal, als er und Nina frisch verliebt waren, hatte er ihr gezeigt, wie man Steine mit scheinbar unpassenden Proportionen so zusammensetzt, daß sie passen. Man braucht nur eine einzige Kante, die gleich ist , hatte er ihr erklärt.
    Jetzt hebt er einen Stein von dem Mauerstück und schleudert ihn auf die Straße, wo er zersplittert. Er zerstört sein ganzes Tageswerk, Stück für Stück. Dann sinkt er auf den Trümmerhaufen nieder, preßt sich die staubigen Hände auf die Augen und weint um all das, was nicht wieder zusammengesetzt werden kann.

    Ich habe noch etwas anderes zu erledigen. Im Sekretariat des Bezirksgerichts bewege ich mich wie ein Roboter. Die Tränen rinnen mir übers Gesicht, wie sehr ich sie auch zurückhalten möchte. Das ist kein professionelles Verhalten, aber es ist mir egal. Es ist schließlich auch keine professionelle Angelegenheit, sondern eine sehr persönliche.
    Â»Wo sind die Formulare für die Schutzverfügungen bei noch nicht Strafmündigen?« frage ich die Sekretärin. Sie ist neu am Gericht, und ich habe ihren Namen vergessen.
    Sie sieht mich an, als hätte sie Angst zu antworten. Dann

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