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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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seiner Hand, und er fährt zurück. Er will einfach nicht aufhören, das Zeichen zu machen.
    Dr. Robichaud schließt behutsam das Buch. »Nathaniel, möchtest du uns etwas sagen?«
    Er nickt, die Hand noch immer seitlich am Kopf. Alle Luft weicht aus meinem Körper. »Er möchte Caleb hier haben –«
    Dr. Robichaud unterbricht mich. »Legen Sie ihm nichts in den Mund, Nina.«
    Â»Sie können doch nicht annehmen, daß er –«
    Â»Nathaniel, hat dein Daddy dich schon mal irgendwohin mitgenommen, nur ihr zwei ganz allein?« fragt die Psychiaterin.
    Nathaniel scheint die Frage zu verwirren. Er nickt langsam.
    Â»Hat er dir je geholfen, dich anzuziehen?« Wieder ein Nicken. »Hat er dich je umarmt, in deinem Bett?«
    Ich bin in meinem Sessel wie festgefroren. Als ich spreche, sind meine Lippen ganz steif. »Sie täuschen sich. Er will bloß wissen, warum Caleb nicht hier ist. Er vermißt seinen Vater. Er hätte doch keine Zeichensprache gebraucht, wenn er … wenn er …« Ich kann es nicht mal aussprechen. »Er hätte auf ihn zeigen können, tausendmal«, flüstere ich.
    Â»Vielleicht hatte er vor den Konsequenzen einer unmittelbaren Identifizierung Angst«, erklärt Dr. Robichaud. »So ein Handzeichen ist für ihn eine psychologische Schutzschicht. Nathaniel«, sagt sie sanft. »Wer hat dir weh getan?«
    Er zeigt auf das Buch. Und macht erneut das Zeichen für Vater .

    Wehe dem, dessen Wünsche in Erfüllung gehen. Endlich hat Nathaniel gesagt, wer es war, und es ist ausgerechnet der Mensch, von dem ich das am wenigsten erwartet hätte. Ich werde so steif wie Stein, das Material, mit dem Caleb am liebsten arbeitet.
    Ich höre, wie Dr. Robichaud das Jugendamt anruft. Ich höre, wie sie Monica mitteilt, daß es jetzt einen Verdächtigen gibt, aber ich bin weit weg. Ich beobachte das Ganze mit der Teilnahmslosigkeit eines Menschen, der genau weiß, was als nächstes passiert. Ein Detective wird auf den Fall angesetzt. Caleb wird zum Verhör vorgeladen. Wally Moffett wird die Staatsanwaltschaft in Portland verständigen. Caleb wird entweder gestehen und aufgrund seiner Aussage verurteilt, oder Nathaniel muß ihn vor Gericht beschuldigen.
    Der Alptraum hat soeben begonnen.
    Er kann es nicht getan haben. Das weiß ich so gut wie alles andere, was ich nach so vielen Jahren über Caleb weiß. Ich habe noch vor Augen, wie er den Säugling Nathaniel nachts an den Füßen hält und mit ihm auf und ab geht, weil das die einzige Haltung war, in der unser von Koliken gequältes Baby aufhörte zu weinen. Ich habe noch vor Augen, wie ihm bei der Weihnachtsfeier von Nathaniels Vorschule die Tränen kamen. Er ist ein guter, starker, verläßlicher Mann, einer von der Sorte, der man sein Leben anvertrauen würde, oder das Leben des eigenen Kindes.
    Aber wenn ich glaube, daß Caleb unschuldig ist, bedeutet das, daß ich Nathaniel nicht glaube.
    Erinnerungssplitter schießen mir durch den Kopf. Caleb, der andeutet, daß Patrick der Schuldige sein könnte. Wieso hätte er den Namen ins Spiel bringen sollen, wenn er nicht von sich selbst ablenken wollte? Oder Caleb, der Nathaniel erklärt, er brauche die Zeichensprache nicht zu lernen, wenn er nicht wolle. So hindert man ein Kind daran, die Wahrheit zu gestehen.
    Ich bin schon einigen verurteilten Kinderschändern begegnet. Sie tragen keine Abzeichen, die ihr Verbrechen verraten. Es verbirgt sich hinter einem warmherzigen, großväterlichen Lächeln; es steckt in der Tasche eines Button-down-Hemdes. Sie sehen aus wie wir alle, und das macht es so beängstigend – zu wissen, daß diese Unmenschen unter uns sind und wir nicht das geringste ahnen.
    Ich habe mich immer gefragt, wie es möglich ist, daß Mütter nicht mitbekommen, was bei ihnen zu Hause vor sich geht. Sie mußten doch irgendwann bewußt die Entscheidung getroffen haben, lieber wegzuschauen, als etwas zu sehen, was sie nicht sehen wollten. Keine Ehefrau, so dachte ich, könnte neben einem Mann schlafen und nicht wissen, was in seinem Kopf vor sich geht.
    Â»Nina.« Monica LaFlamme berührt mich an der Schulter. Wann ist sie gekommen? Ich habe das Gefühl, aus einem Koma zu erwachen. Ich schüttele mich, um wieder klar denken zu können, und blicke sofort zu Nathaniel hinüber. Er spielt noch immer im Zimmer der

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