Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
liebsten noch etwas länger mit dir zusammen wäre. Aber … ich habe etwas zu erledigen.«
    Nathaniel schüttelt den Kopf, und sein Gesicht verdüstert sich.
    Â»Wir sehen uns, sobald ich kann.« Caleb geht auf mich zu, wippt Nathaniel in den Armen auf und ab, schält ihn sich förmlich vom Körper und drückt ihn in meine Arme. Inzwischen weint Nathaniel so heftig, daß ihn lautlose Schluchzer schütteln. Sein Brustkorb bebt heftig unter meiner Handfläche.
    Als Caleb auf seinen Pick-up zugeht, blickt Nathaniel hoch. Seine Augen sind kleine Schlitze und beinahe schwarz. Er hebt die Faust und schlägt mich auf die Schulter. Er tut es wieder und wieder, ein Wutanfall, der sich gegen mich richtet.
    Â»Nathaniel!« sagt Patrick scharf.
    Aber es tut nicht weh. Bei weitem nicht so sehr wie alles andere.

    Â»Mit einer gewissen Regression müssen Sie rechnen«, sagt Dr. Robichaud leise, als wir beide zusehen, wie Nathaniel teilnahmslos auf dem Bauch auf dem Teppichboden des Spielzimmers liegt. »Seine Familie zerbricht. In seiner Vorstellung ist er dafür verantwortlich.«
    Â»Er ist zu seinem Vater gelaufen«, sage ich. »Sie hätten es sehen sollen.«
    Â»Nina, Sie wissen doch besser als die meisten, daß das kein Beweis für Calebs Unschuld ist. In so einer Situation glauben Kinder, daß sie eine besondere Bindung an den Elternteil haben. Daß Nathaniel auf ihn zuläuft – das ist ein Verhalten wie aus dem Lehrbuch.«
    Oder vielleicht, erlaube ich mir zu denken, hat Caleb gar nichts Böses getan. Aber ich schiebe die Zweifel beiseite, weil ich jetzt auf Nathaniels Seite bin. »Also, was soll ich tun?«
    Â»Absolut nichts. Seien Sie einfach weiter die Mutter, die Sie immer waren. Je besser Nathaniel begreift, daß Teile seines Lebens konstant bleiben, desto schneller wird er die Veränderungen verkraften.«
    Ich beiße mir auf die Lippen. Es liegt in Nathaniels Interesse, meine Fehler einzugestehen, aber das ist nun mal nicht einfach. »Vielleicht ist das keine so gute Idee. Ich arbeite oft sechzig Stunden die Woche. Ich war eigentlich nicht der zupackende Elternteil. Das war Caleb.« Zu spät bemerke ich meine unglückliche Wortwahl. »Ich meine … na ja, Sie wissen schon, was ich meine.«
    Nathaniel hat sich auf die Seite gerollt. Heute scheint er sich in Dr. Robichauds Praxis für nichts zu interessieren. Die Stifte liegen unberührt herum. Die Malblocks sind ordentlich in einer Ecke gestapelt, das Puppentheater bleibt eine Geisterstadt.
    Die Psychiaterin nimmt ihre Brille ab. »Wissen Sie, als Wissenschaftlerin bin ich überzeugt, daß wir die Macht haben, unser Leben selbst zu gestalten. Ich glaube aber auch fest daran, daß nichts ohne Grund geschieht, Nina.« Dr. Robichaud blickt rasch zu Nathaniel hinüber, der jetzt aufgestanden ist und endlich auf den Tisch zugeht. »Vielleicht ist er nicht der einzige, der einen Neuanfang macht.«

    Nathaniel will verschwinden. So schwer kann das nicht sein. Es passiert andauernd mit allen möglichen Sachen. Die Regenpfütze vor der Schule ist weg, wenn die Sonne mitten am Himmel steht. Seine blaue Zahnbürste verschwindet und wird durch eine rote ersetzt. Die Katze von nebenan schleicht eines Nachts nach draußen und kommt nie wieder. Wenn er darüber nachdenkt, muß er weinen. Deshalb versucht er von guten Sachen zu träumen – X-Men und Weihnachten und Maraschinokirschen –, aber er kann sich davon nicht mal ein Bild im Kopf machen. Er versucht, sich seine Geburtstagsparty vorzustellen, nächsten Mai, doch er sieht nur Schwarz.
    Ach, könnte er doch einfach die Augen zumachen und für immer einschlafen, einfach dort bleiben, wo Träume sich so echt anfühlen. Plötzlich hat er eine Idee: Vielleicht hat er ja jetzt einen bösen Traum. Vielleicht wacht er gleich auf, und alles ist wieder, wie es sein soll.
    Aus den Augenwinkeln sieht Nathaniel das dicke, blöde Buch mit den vielen Händen drin. Wenn das Buch nicht gewesen wäre, hätte er nie gelernt, mit den Fingern zu sprechen, und wenn er nichts gesagt hätte, wäre das nie passiert. Er richtet sich auf und geht zu dem Tisch, auf dem es liegt. Die erste Seite zeigt einen fröhlichen, lächelnden Mann, der mit seiner Hand hallo sagt. Die nächste Seite einen Hund und eine Katze und die Zeichen für beide. Nathaniel fängt an,

Weitere Kostenlose Bücher