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Die Macht des Zweifels

Titel: Die Macht des Zweifels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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verängstigt, und er muß daran denken, wie sie in seinen Armen gezittert hat, mit dem Rücken zu ihm, als er sie gestern nachmittag aus dem Saal führte.
    Nina schließt die Augen und geht dann weiter. In ihrem Gesicht steht genau der gleiche Ausdruck, den sie mit elf Jahren hatte, in einem Skilift, der erst wenige Meter gefahren war. Patrick hatte damals den Mann, der den Lift bediente, dazu gebracht, Nina wieder aussteigen zu lassen, weil sie sonst ohnmächtig geworden wäre.
    Er hätte nicht kommen sollen, aber Patrick weiß auch, daß er nicht hätte wegbleiben können.

    Die Eröffnungsverhandlung meiner Anklage findet in demselben Saal statt, in dem ich gestern einen Mann ermordet habe. Der Gerichtsdiener legt mir eine Hand auf die Schulter und eskortiert mich durch die Tür. Die Hände in Handschellen auf dem Rücken, gehe ich denselben Weg, den der Priester gegangen ist. Wenn ich ganz genau hinsehe, kann ich seine Fußspuren leuchten sehen.
    Wir laufen am Tisch der Anklagevertretung vorbei. Heute sind fünfmal so viele Reporter da wie gestern. Ich erkenne sogar ein paar Gesichter aus den Fernsehnachrichten. Wußten Sie, daß Fernsehkameras wie das Zirpen von Grillen klingen? Ich blicke zum Zuschauerraum, suche Caleb, aber hinter Fisher Carringtons Tisch ist nur eine leere Sitzreihe.
    Ich trage meine Gefängniskleidung und Schuhe mit niedrigen Absätzen. Gefängnisse stellen keine Schuhe zur Verfügung, daher muß man die tragen, in denen man festgenommen wurde. Und noch gestern, vor einer Ewigkeit, war ich eine berufstätige Frau.
    Wir befinden uns an genau der Stelle, an der gestern der tote Priester lag. Wo das Reinigungspersonal vermutlich nicht alle Blutflecken entfernen konnte, wurde der Boden mit einem Stück Teppichboden bedeckt.
    Plötzlich kann ich keinen Schritt weitergehen.
    Der Gerichtsdiener packt meinen Arm fester und zerrt mich über die Matte an die Seite von Fisher Carrington. Erst dort weiß ich wieder, wer und wo ich bin. Ich setze mich auf denselben Stuhl, auf dem gestern der Priester saß, als ich aufstand und ihn erschoß. Die Sitzfläche ist warm unter meinen Oberschenkeln – von den Deckenlampen, die auf das Holz geschienen haben, oder vielleicht auch von einer Seele, die noch nicht die Zeit hatte, weiterzuziehen. Als der Gerichtsdiener zurücktritt, spüre ich einen Luftzug im Nacken und fahre herum, überzeugt, daß dort jemand mit einer Kugel für mich lauert.
    Aber da lauert keine Kugel, kein jäher Tod. Da sind nur die Augen aller Menschen im Saal, die wie Säure brennen. Um den Zuschauern etwas zu bieten, fange ich an, an den Nägeln zu kauen und hin und her zu rutschen. Nervosität kann auch verrückt wirken.
    Â»Wo ist Caleb?« raune ich Fisher zu.
    Â»Ich habe keine Ahnung, aber er ist heute morgen in mein Büro gekommen und hat mir einen Vorschuß gezahlt. Halten Sie den Kopf gerade.« Ehe ich antworten kann, klopft der Richter mit seinem Hammer.
    Ich kenne den Richter nicht. Vermutlich haben sie ihn von Lewiston kommen lassen. Und den Staatsanwalt, der da auf meinem alten Platz am Tisch der Anklagevertretung sitzt, kenne ich auch nicht. Er ist riesig, kahlköpfig, angsteinflößend. Er blickt nur einmal kurz zu mir herüber, und dann gleitet sein Blick weiter – er hat mich schon abgeschrieben, weil ich auf die dunkle Seite hinübergewechselt bin.
    Plötzlich würde ich am liebsten zu dem Staatsanwalt gehen und ihn am Ärmel zupfen. Richten Sie nicht über mich, möchte ich sagen, ehe Sie nicht auch die andere Seite gehört haben. Man ist nur so unbesiegbar wie die kleinste Schwäche, die man hat, und die kann wirklich ganz klein sein – so lang wie die Wimpern eines schlafenden Babys, die Spanne einer Kinderhand. Das Leben ist unberechenbar und – wie ich festgestellt habe – das eigene Gewissen auch.
    Â»Ist die Anklage bereit?« fragt der Richter.
    Der stellvertretende Generalstaatsanwalt nickt. »Ja, Euer Ehren.«
    Â»Ist die Verteidigung bereit?«
    Â»Ja, Euer Ehren«, sagt Fisher.
    Â»Die Angeklagte möge sich erheben.«
    Ich stehe nicht sofort auf. Das ist keine bewußte Provokation. Ich bin es einfach nicht gewohnt, mich an dieser Stelle zu erheben. Der Gerichtsdiener zieht mich hoch und verdreht mir dabei den Arm.
    Fisher Carrington bleibt sitzen, und mir wird am ganzen Körper kalt. Jetzt hat er

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