Die Macht des Zweifels
Vater würde tun wollen. Ich muà bloà den Eindruck erwecken, daà ich verrückt bin, damit ich nicht bestraft werde.«
»Und du glaubst, das schaffst du?«
»Ich weiÃ, was erforderlich ist, um für zurechnungsfähig erklärt zu werden. Ich brauche einen Angeklagten bloà reinkommen zu sehen, und ich kann dir auf Anhieb sagen, ob er verurteilt oder freigesprochen wird. Ich weiÃ, was man sagen, was man machen muÃ.« Ich blicke Caleb in die Augen. »Ich bin Anwältin. Aber ich hab vor den Augen eines Richters, eines ganzen Gerichtssaales, einen Menschen erschossen. Wieso hätte ich das tun sollen, wenn ich nicht verrückt bin?«
Caleb schweigt einen Moment, scheint die Wahrheit in seinen Händen abzuwägen. »Warum erzählst du mir das?« fragt er leise.
»Weil du mein Mann bist. Du kannst im Prozeà nicht gegen mich aussagen. Du bist der einzige , dem ich es erzählen kann.«
»Warum hast du mir dann nicht erzählt, was du vorhattest?«
»Weil du mich daran gehindert hättest«, erwidere ich.
Als Caleb aufsteht und zum Fenster geht, folge ich ihm. Ich lege meine Hand sachte auf seinen Rücken. »Nathaniel hat es verdient«, flüstere ich.
Caleb schüttelt den Kopf. »Das hat niemand verdient.«
Man kann weiter funktionieren, während es einem das Herz im Leibe zerreiÃt. Das Blut pulsiert, die Lunge atmet. Was verlorengeht, sind die Gefühlsregungen. Stimme und Alltagshandlungen scheinen merkwürdig hohl, was von einer Leere tief im Innern zeugt, die unendlich ist. Caleb starrt diese Person an, die noch gestern seine Frau war, und erblickt eine Fremde. Er lauscht ihren Erklärungen und fragt sich, wann sie diese Fremdsprache erlernt hat, die für ihn völlig unverständlich ist.
Natürlich hat sie genau das getan, was am liebsten alle Eltern dem Ungeheuer antun würden, das sich an einem Kind vergreift. Aber kaum jemand setzt es in die Tat um. Vielleicht denkt Nina wirklich, daà sie Nathaniel gerächt hat, aber der Preis war unverhältnismäÃig hoch. Wäre Szyszynski ins Gefängnis gekommen, hätte das für sie zwar nur einen schwachen Trost bedeutet, aber sie wären noch immer eine Familie gewesen. Falls Nina ins Gefängnis kommt, verliert Caleb seine Frau. Nathaniel verliert seine Mutter.
Caleb spürt in den Muskeln seiner Schultern ein Brennen, wie von Säure. Er ist wütend und ratlos und vielleicht auch ein biÃchen ehrfürchtig. Er hat jeden Zentimeter dieser Frau erkundet, er weiÃ, was sie zum Weinen bringt und was ihre Leidenschaft weckt. Er kennt jede Narbe und jede Linie ihres Körpers; aber sie selbst kennt er überhaupt nicht.
Nina steht hoffnungsvoll neben ihm, wartet auf seine Bestätigung, daà sie das Richtige getan hat. Seltsam, daà sie sich über Recht und Gesetz erhebt, aber doch seine Zustimmung braucht. Aus diesem Grund und aus all den anderen Gründen wird er die Worte, die sie von ihm hören möchte, nicht aussprechen.
Als Nathaniel ins Zimmer kommt, die Decke vom EÃtisch um die Schultern drapiert, sucht Caleb bei ihm Halt. In dieser fremden Wildnis ist Nathaniel das einzige, das er wiedererkennt. »Hallo!« ruft Caleb mit übertriebener Begeisterung und wirft den Jungen in die Luft. »Toller Umhang!«
Auch Nina wendet sich um, ein Lächeln in ihrem eben noch ernsten Gesicht. Auch sie greift nach Nathaniel, und dann setzt sich Caleb den Jungen auf die Schultern, wo sie ihn nicht mehr erreichen kann.
»Es wird schon dunkel«, sagt Nathaniel. »Gehen wir?«
»Wohin?«
Statt einer Antwort deutet Nathaniel zum Fenster hinaus. Unten auf der StraÃe ist ein ganzes Bataillon von kleinen Kobolden, Minimonstern, guten Feen unterwegs. Zum ersten Mal fällt Caleb auf, daà das Laub von den Bäumen gefallen ist, daà grinsende Kürbisse wie träge Hennen auf der Mauer vom Nachbarhaus hocken. All diese Anzeichen für Halloween hat er doch tatsächlich übersehen!
Er blickt Nina an; ihr ist es ähnlich ergangen. Prompt klingelt es unten an der Tür. Nathaniel strampelt auf Calebs Schultern. »Los, aufmachen! Aufmachen!«
»Das geht jetzt nicht.« Nina wirft ihm einen hilflosen Blick zu. Sie haben keine SüÃigkeiten im Haus.
Schlimmer noch, sie haben auch kein Kostüm. Caleb und Nina begreifen das gleichzeitig, und es bringt sie einander näher. Beide
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