Die Macht
Stoffserviette gehüllt war. Rapp ging kein Risiko ein, und mit jeder Minute, die verging, nahm seine Unruhe zu. Es war schon Viertel nach sechs, und Donatella war immer noch nicht erschienen. Rapp ging in Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten durch. Er stimmte mit Irene Kennedy darin überein, dass die israelische Regierung wahrscheinlich nichts von Donatellas Einsatz in Amerika vor wenigen Wochen wusste. Der Mossad hatte in den vergangenen Jahren schon viele verrückte Dinge gemacht, doch diese Operation passte ganz und gar nicht ins Bild. Es gab einfach keinen Grund, warum ihn der berüchtigte israelische Geheimdienst in Deutschland hätte aus dem Weg räumen sollen. Mitch Rapp und das Orion-Team waren seit einem Jahrzehnt die engsten Verbündeten der Israelis.
Gewiss, der Mossad hatte die Mittel, um eine solche Operation durchzuziehen – doch es fehlte ganz einfach ein plausibles Motiv. Und wenn Direktor Stansfield die Sache richtig eingeschätzt hatte, dann sollte mit dieser Tat verhindert werden, dass Irene Kennedy Direktorin der Central Intelligence Agency wurde. Welches Interesse hätte nun der Mossad haben sollen, gegen Irene Kennedy zu sein, die als Leiterin der Antiterrorzentrale so eng mit Israel zusammengearbeitet hatte? Nein , dachte Rapp, Donatella muss den Job für irgendeinen anderen Auftraggeber erledigt haben. Die entscheidende Frage war, für wen.
Während die Minuten verstrichen, grübelte er darüber nach, ob er es jemals herausfinden würde. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass Donatella in der Firma aufgehalten worden war und sich verspätete, doch wenn man so lange in diesem Geschäft tätig war wie Rapp, dann gab man sich nicht mit der erstbesten Erklärungsmöglichkeit zufrieden. In diesem Geschäft war es überlebenswichtig, immer alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Rapp überlegte, was Donatella wohl tun würde, wenn doch die Israelis hinter der Sache steckten, so unsinnig es auch erscheinen mochte. Nun, in diesem Fall würde sie einfach abhauen müssen. Sie konnte sich nicht gut an die Israelis wenden und ihnen sagen, dass Rapp sie aufgesucht hätte. In diesem Fall würde der Mossad sie bestimmt nicht schützen, sondern höchstens selbst beseitigen. Doch das war völlig an den Haaren herbeigezogen. Rapp schob ein für alle Mal die Möglichkeit beiseite, dass die israelische Regierung hinter der Sache stecken könnte.
Aber wenn sie es nicht waren – wer dann? Es gab natürlich die üblichen Verdächtigen – Russland, China, Irak, Iran, Syrien, Palästina und Frankreich. Möglicherweise waren die Russen die Einzigen, denen man zutrauen konnte, dass sie von der Deutschland-Mission der Agency gewusst haben könnten, aber auch sie hatten nach Rapps Einschätzung keinerlei Motiv. Alle Anzeichen wiesen darauf hin, dass der Täter in Amerika zu Hause war. Es gab irgendjemanden im Lande, der ihn ausschalten wollte – mit dem eigentlichen Ziel, Irene Kennedys Laufbahn zu zerstören.
Rapp hatte nicht die geringste Ahnung, wer ein solches Ziel verfolgen könnte – doch er hoffte, dass Donatella ihm weiterhelfen konnte. Aber dazu musste sie erst einmal auftauchen. Während er sich zum hundertsten Mal im Café umblickte, hoffte er inständig, dass sie so klug gewesen war, ihre Verabredung für sich zu behalten. Sie musste ihm ganz einfach vertrauen, dann würde er seinerseits dafür sorgen, dass es ihr nicht schadete, dass sie ihm half.
Es war 6.27 Uhr, als Donatella endlich auftauchte. Sie betrat das laute, mittlerweile gut gefüllte Lokal in einem schwarzen Hosenanzug. Profis, die sie beide waren, sahen sie einander kaum an. Sie hatten beide eine ähnliche Ausbildung genossen und wussten, dass das Unheil meistens von dort kam, wo man es am wenigsten vermutete. Sie sahen sich zuerst einmal aufmerksam um, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand auflauerte. Rapp sah, dass sich so mancher Mann nach Donatella umdrehte, als sie durch das Café schritt. Er suchte nach irgendwelchen Gesichtern, die er vielleicht schon einmal gesehen hatte, und nach einem Augenpaar, das ihn anstarrte und nicht die atemberaubende Schönheit, die soeben hereingekommen war.
Donatella lächelte ihm verschwörerisch zu und kam auf seine Seite des Tisches. Sie küsste ihn auf die Wange, stieß ihn mit ihrer kurvigen Hüfte, damit er ein wenig zur Seite rückte, und setzte sich dann fast in seinen Schoß. Es hatte zwei Gründe, warum sie sich neben ihn
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