Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
plötzlich. »Warum sind wir nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen? Man hätte dem Kind dort Milch gegeben und eine gute christliche Erziehung.« Er verfluchte sich wortreich für dieses Versäumnis, und gleich darauf beklagte er erneut sein ruiniertes Wams.
Piero ging nicht darauf ein. Er legte das jetzt wieder schlafende Kind unter der Ruderbank ab und untersuchte Pasquales Verletzung. Sie war weniger tief, als er befürchtet hatte, aber es war ein übel klaffender Schnitt, der sich vom unteren Rippenbogen bis fast zum Schulterblatt zog. Er blutete immer noch, wenn auch nicht mehr so stark. Dennoch würde er nicht umhin können, die Wunde zu nähen, sobald sie Murano erreicht hatten. Einstweilen opferte er einen Streifen seines Leinenhemdes, um die Wunde zu verbinden. Pasquale sog hin und wieder hörbar die Luft ein, aber ansonsten ließ er die Prozedur still über sich ergehen.
Das Kind schlief immer noch unter der Ruderbank, als Piero schließlich das Tau einholte und ablegte.
Er lenkte das Boot in den Rio di Palazzo und schnauzte Vittore an, der unter dröhnenden Geräuschen immer mehr stinkende Gase absonderte, die auf scheußliche Art nach Zwiebeln rochen.
»Die Pastete muss verdorben gewesen sein«, jammerte Vittore. »Ich kann es nicht einhalten! Meine Eingeweide werden platzen! Was soll ich machen? Es wird immer schlimmer!«
»Furz in eine andere Richtung!«
Sie durchquerten die Stadt auf dem Wasserweg in nördlicher Richtung und hielten anschließend Kurs auf Murano. Sie hatten sich kaum hundert Bootslängen von der Küste entfernt, als Vittore auch schon auf der Bank hin und her rutschte und mit gequälter Stimme erklärte, dass er sich erleichtern müsse. Irgendwie schaffte er es, seinen Hintern über den Bootsrand zu hieven und den Inhalt seiner Gedärme unter allerlei Gestöhne und lautem Knattern in die Lagune zu entleeren.
Der arme Pasquale saß direkt daneben, durch seine Verwundung zu erschöpft, um sich einen besseren Platz zu suchen. Würgend wandte er den Kopf ab, erwiderte aber auf Vittores gestammelte Entschuldigung großmütig, dass es ihm nichts ausmache.
Nebelschwaden zogen über das Wasser, während das Boot durch die Nacht glitt. Piero beschränkte sich auf das Rudern, da zu wenig Wind ging, um das Segel zu hissen. Außerdem war es zu dunkel. Doch er war die Strecke schon ungezählte Male gerudert und kannte sie daher genau. Mehrmals mussten sie anderen Booten ausweichen, die ihren Weg kreuzten, doch davon abgesehen verlief die Fahrt ruhig.
Als nach einer Weile die von Fackeln gesäumte Ufersilhouette von Murano in Sicht kam, brach Vittore das anhaltende Schweigen.
»Der Junge ist eingeschlafen.«
»Ich weiß.«
»Willst du morgen das Kind in ein Waisenhaus bringen?«
»Nein.«
»Was willst du damit machen, es auf dem Sklavenmarkt verkaufen?«
Piero lachte kurz auf, doch dann erkannte er, dass die Frage ernst gemeint war. Ohne nachzudenken, fing er an, Vittore unflätig zu beschimpfen, was er jedoch gleich darauf bereute. Sein Ofenmeister wusste es nicht besser. Vittore war ein guter Arbeiter, aber es mangelte ihm auf beklagenswerte Weise an menschlicher Erziehung. Er hatte früh seine Eltern verloren und war bei entfernten Verwandten aufgewachsen, die in ihm nur einen unnützen Esser gesehen hatten.
Vittore schien die rüde Zurechtweisung nichts auszumachen. Seiner Miene war abzulesen, dass ihm soeben eine Erkenntnis dämmerte. Er richtete sich auf und starrte Piero fassungslos an. »Du willst es deiner Frau geben!«
»Das Kind könnte es schlechter treffen.«
»Du weißt ja nicht, was du tust!«
»Doch«, erwiderte Piero ruhig. »Es gibt mehr als einen guten Grund dafür. Bianca hat geboren, sie hat Milch. Mein Sohn ist tot, aber das Mädchen hier lebt. Dieses Kind wird ihr neuen Lebensmut geben.«
»Aber das ist … verrückt!«
Piero zuckte die Achseln. »Vittore, damit magst du ausnahmsweise einmal Recht haben. Du weißt ja, wie die Leute mich gern nennen.«
Er lenkte das Boot in den Rio dei Vetrai, und während er den Sàndolo mit stetigen Ruderbewegungen vorwärts trieb, erfasste ihn mit einem Mal die Angst, das Kind könne gestorben sein. Kinder, die gerade erst geboren waren, überlebten allzu oft kaum einen einzigen Tag.
Nur noch wenige Bootslängen trennten ihn von der Anlegestelle seines Hauses, als er das Ruder fahren ließ und hastig das Bündel unter der Bank hervorzog. Dabei ging er offenbar heftiger zu Werke, als es einem so winzigen Wesen
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