Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
Vom Netzwerk:
durch das lange Rohr der Pfeife zu blasen, damit Piero das glühende Werkstück bearbeiten konnte. Piero schob die Masse mit einem Metallstab auseinander und bewegte dabei das Blasrohr hin und her. Während Vittore gleichmäßig blies, schien das geschmolzene Glas sein Volumen zu ändern und blähte sich auf, und das Gelb wurde allmählich zu Orange und wechselte dann zu Rot. Eilig brachte Vittore die Masse zurück in den Schmelzofen, um sie für den nächsten Arbeitsgang erneut zu erhitzen. Sie wiederholten den Prozess, bis Piero mit der Größe der Kugel zufrieden war.
    Sanchia betrat die Werkstatt. »Mutter sagt, du mögest zum Essen kommen.«
    »Gleich«, sagte Piero, ohne sich zu ihr umzuwenden. Er setzte den Metallstab an und wartete, bis Nicolò kaltes Wasser auf die Nahtstelle goss, wo die Glaspfeife an der Kugel haftete. Sanchia hörte das knackende Geräusch, mit dem das Endstück des Rohrs sich von der Kugel löste.
    Da sie wusste, dass gleich bei ihrem Vater alles bedeuten konnte, was zwischen der Dauer eines Atemzuges und einem halben Tag lag, machte sie keine Anstalten, die Werkstatt zu verlassen. Dafür war das, was gleich hier geschehen würde, viel zu faszinierend.
    »Nicht so dicht!«, befahl Piero, der sie aus den Augenwinkeln näherkommen sah. Gehorsam blieb sie stehen und reckte sich auf die Zehenspitzen, um nichts zu verpassen.
    Die Kugel wurde jetzt von dem Metallstab gehalten, und Vittore schickte sich an, die nach dem Lösen der Glaspfeife entstandene Öffnung mit seinen Werkzeugen zu erweitern, und gleich darauf drehte ihr Vater den Stab immer schneller, bis die Kugel zu wirbeln begann und dann allmählich heller und flacher wurde. Wie immer schrak Sanchia zusammen, als die Kugel sich mit einem plötzlichen Knall vollends zu einer großen Scheibe auftat. Natürlich hatte sie vorher gewusst, dass es passieren würde, dennoch war der Zauber dieses einen Augenblicks jedes Mal eine besondere Überraschung. Piero drehte das Glas weiter, um es abzukühlen und die Form noch mehr zu verflachen, bis Vittore schließlich mithilfe von Marino und Nicolò die Scheibe auf einer Lage Holzasche ablegte, wo sie als Fensterglas zurechtgeschnitten werden konnte.
    Piero verließ die von Hitzeschwaden erfüllte Werkstatt und ging hinaus in den Hof. Er wusch sich dort am Wassertrog, bevor er Sanchia die Stiege hinauf in die Wohnräume folgte, um mit seiner Tochter und seiner Frau das Mittagsmahl einzunehmen.
    Die Arbeiter und das Gesinde aßen in einem eigenen Raum, der sich im Erdgeschoss neben der Werkstatt befand. Bianca hatte schon vor Jahren darauf bestanden, dass die Familie zu den Mahlzeiten unter sich blieb, nicht aus Dünkel, sondern weil sie fürchtete, ihren Mann sonst nie mehr allein zu Gesicht zu bekommen. Die Leute nannten Piero nicht von ungefähr den verrückten Glasbläser. Er verbrachte beinahe jede Minute, die er nicht auf die Produktion von Fensterscheiben, Glaspokalen, Schalen und gläsernen Zierrat verwendete, in einem hinter der Werkstatt eingerichteten zusätzlichen Arbeitsraum, den Bianca sein geheimes Alchimistenlaboratorium nannte. Hier gab es einen weiteren Ofen, den nur er benutzte. An den Wänden standen hohe Regale mit Gefäßen, in denen er alle möglichen Ingredienzien aufbewahrte, pulverisierte oder feste Metalle, exotische Farben, Mineralien und andere Substanzen, mit deren Hilfe er je nach Bedarf das Glas färben, klären oder härten konnte.
    Zu Biancas Leidwesen experimentierte er bereits seit Jahren mit Quecksilber, von dem allgemein bekannt war, dass es die Leute nicht nur krank, sondern noch verrückter machte. Piero hatte es sich in den Kopf gesetzt, eines Tages den perfekten Spiegel herzustellen, und als wäre das noch nicht genug, hatte er vor einiger Zeit begonnen, den armen Pasquale – zugegebenermaßen auf dessen Drängen hin – in die Geheimnisse der Spiegelherstellung einzuweihen. Immerhin war es ihr die meiste Zeit gelungen, ihre Tochter aus der Werkstatt fernzuhalten.
    »Rutsch nicht auf dem Stuhl herum«, tadelte Bianca die Kleine. »Willst du noch ein Stück Fisch?«
    Sanchia schüttelte den Kopf und blieb gehorsam sitzen – ungefähr für die Dauer eines Wimpernschlags, dann bewegte sie sich erneut auf merkwürdige Weise hin und her.
    »Was machst du da?«, wollte Piero wissen. »Warum zappelst du so?«
    Seine Stimme klang nicht halb so streng wie die seiner Frau. Ihm war längst klar, dass Sanchia ihre eigene Art zu denken hatte, genau wie er. Nichts

Weitere Kostenlose Bücher