Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
mitzunehmen.
Sanft teilte er die Haarsträhnen in Biancas Nacken und rieb die verspannte Stelle, von der er wusste, dass sie ihr nach einem langen Tag oft zu schaffen machte.
Sie lehnte die Stirn gegen seine Brust. »Das tut gut.«
»Ich weiß.«
Eine Weile massierte er schweigend ihren Nacken und den Bereich zwischen ihren Schulterblättern. »Ich möchte, dass sie lesen und rechnen lernt«, sagte er schließlich.
Bianca hob verwundert den Kopf. »Warum? Sie ist ein Mädchen! Sie lernt Stricken und Nähen und Kochen, so wie alle anderen Mädchen.« Sie hielt inne, dann fügte sie hinzu: »So wie ich auch.«
Er hörte den leisen Vorwurf in ihrer Stimme, ging aber nicht darauf ein. »Es gibt viele Mädchen, die heutzutage Unterricht haben. Nimm beispielsweise die Töchter von Soderini.«
»Soderini ist Lehrer.«
Damit hatte sie ihm unbeabsichtigt ein Argument an die Hand gegeben. »Wenn die Töchter eines Lehrers lesen lernen können, so kann es die Tochter eines Glasbläsers erst recht.«
Er rieb an den Seiten ihrer Arme auf und ab, was sie vor Behagen aufseufzen ließ. »Ich weiß nicht«, meinte Bianca. »Sie wird auf noch mehr dumme Gedanken kommen.«
»Was ist dumm daran, die Welt verstehen zu wollen?«
»Es tut weh, begreifen zu müssen, wie schlecht sie sein kann.«
»Warum glitzert die Sonne auf dem Wasser? Ich habe mich das schon oft gefragt, und ich bin dabei auf den Gedanken gekommen, dass das Wasser die Sonne spiegelt. Es spiegelt aber auch die Wolken, wenn es hell ist. Denkst du, dass das stimmt, Pasquale?«
»Eh … nun ja, gewiss, es spiegelt.«
»Du bist ein großer Spiegelkenner«, stellte Sanchia lobend fest, was Pasquale prompt zum Erröten brachte.
»Es fragt sich allerdings, warum sich bei Dunkelheit nichts im Wasser spiegelt«, führte Sanchia ihren Exkurs fort. »Was meinst du, warum das so ist, Pasquale?«
»Tja. Weil es dunkel ist.«
»Das sagte ich doch. Also braucht es Licht, damit eine Sache sich in einer Fläche spiegeln kann, oder?«
»Ja doch. Licht.«
»Also Licht und Spiegel oder Spiegel und Licht – das gehört zusammen.«
»So kann man sagen. Licht und Spiegel.«
Piero stellte amüsiert fest, dass Pasquale seine Sache nicht allzu gut machte. Tatsächlich stellte Sanchia dutzende von Fragen, und sein Geselle gab sich alle Mühe, wenigstens einen Teil davon zu beantworten. Dabei stieß er jedoch immer wieder an seine Grenzen. Wie Vittore hatte er kaum Unterricht erhalten. Die paar Worte, die er lesen und schreiben konnte, hatte ihm sein Meister beigebracht, hauptsächlich Formeln und Mengenangaben für die Glasherstellung. Seine Welt war Murano. Dort war er aufgewachsen, und alles, was es über das Glas- und Spiegelmachen zu wissen gab, hatte er aufgesaugt wie ein Schwamm. Andere Dinge interessierten ihn kaum. Er war ein gesunder junger Mann von zweiundzwanzig Jahren und hatte hin und wieder ein Techtelmechtel mit einem Straßenmädchen, aber ansonsten beschränkte sich sein Kontakt mit der Weiblichkeit auf die Inanspruchnahme häuslicher Dienste, die sich überwiegend um saubere Wäsche und nahrhaftes Essen drehten.
Der Umgang mit wissbegierigen kleinen Mädchen war ihm offenbar nicht ganz geheuer. Er wand sich und strengte sich an, aber ihm war deutlich anzumerken, dass er es vorgezogen hätte, ihr nicht Rede und Antwort stehen zu müssen. Hin und wieder warf er seinem Meister einen Hilfe suchenden Blick zu, doch Piero hatte gleich zu Beginn der Überfahrt verkündet, dass er sich aufs Segeln konzentrieren und über wichtige geschäftliche Dinge nachdenken müsse.
Viele von Sanchias Fragen waren allerdings von der Art, die auch einen gebildeteren Mann zur Verzweiflung getrieben hätten.
»Warum fallen in der Serenissima die Schweine vom Turm?«
»Uh … ja, also … Sie fallen immer am Giovedì grasso.«
Sanchia schaute nachdenklich drein. »Jemand muss sie auf den Turm bringen, damit sie fallen können. Sie steigen gewiss nicht aus eigenem Willen hinauf. Und hinunterspringen tun sie sicherlich auch nicht von allein, oder?«
»Woher willst du das wissen?«
Sie wurde rot. »Ich habe versucht, Esmeralda unsere Stiege hinaufzuführen. Sie hat furchtbar gequiekt und wollte nicht.«
Piero verkniff sich nur mühsam das Lachen. Er erinnerte sich, es war noch gar nicht lange her. Die Hausmagd hatte den ganzen Tag gegrollt.
Nun mischte er sich doch ein. »Wolltest du Esmeralda aus dem Fenster werfen?«
Sie war entrüstet über diese Unterstellung. »Aber
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