Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
und niemand würde ihr das austreiben können. Sie hätte ebenso gut sein leibliches Kind sein können. Nicht nur, weil er sie über alle Maßen liebte, sondern weil ihre Seele der seinen auf eine Art ähnelte, die ihm manchmal fast unheimlich erschien.
»Ich zapple nicht, ich probiere etwas aus«, informierte Sanchia ihn. Anschließend teilte sie Piero mit, dass sie eine Glasperlenkette ihrer Mutter angelegt habe, um zu untersuchen, ob diese anders schwingen könne.
»Anders als was?«, fragte Piero verblüfft.
»Als mein Glücksbringer. Er bewegt sich in entgegengesetzter Richtung, wenn ich auf und ab springe oder hin und her schaukle. Zuerst dachte ich, er wäre nur langsamer. Aber jetzt weiß ich, dass er genauso schnell ist wie ich. Nur in der anderen Richtung. Seht!« Sie hielt die Kette fest und versetzte sie dann in Bewegung, um es ihren Eltern zu demonstrieren. »Ich dachte, es hätte vielleicht mit Magie zu tun. Aber Mutters Kette ist genauso. Es muss eine bestimmte Kraft geben, die das bewirkt. Ich würde gern herausfinden, welche das ist.«
»Das sind unnütze Gedanken«, schalt Bianca.
»Nein«, widersprach Piero. Das Wort war ihm herausgerutscht, bevor er richtig nachdenken konnte. Es war nicht seine Art, die Erziehungsmaßnahmen seiner Frau infrage zu stellen. Er legte zerknirscht seine Hand auf Biancas und drückte sie zärtlich. Sie ließ es geschehen, aber an der Art, wie sie das Kinn vorschob, erkannte er, dass er sie verärgert hatte.
»Iss dein Gemüse auf«, befahl Bianca der Kleinen.
»Ich bin satt. Darf ich aufstehen?«
Piero erlaubte es, bevor Bianca eine andere Entscheidung treffen konnte. Sie furchte die Stirn, als Sanchia aufsprang, für das Essen dankte und anschließend förmlich zur Tür hinausflog.
»Sie ist manchmal so merkwürdig«, sagte sie.
»Sie ist wunderbar«, meinte Piero einfach.
Bianca lächelte leicht. »Ja, das ist sie. Es gibt auf der ganzen Welt kein Kind, das so wunderbar ist wie unsere Tochter! Ich danke dem Herrn jeden Tag dafür, dass er sie uns gegeben hat.« Sie schaute ihn an. »Kein Geschenk hätte je kostbarer sein können. Du bist ein guter Mann und Vater.« Es lag ihr nicht, große Worte zu machen, aber in ihren Augen stand ihre bedingungslose Liebe.
Spontan legte er die Hand an ihre Wange und liebkoste sie. Ihre Haut war weich, und ihr Haar glänzte mehr als sonst. Auch war ihr Gesicht etwas voller, wie jedes Mal, wenn sie ein Kind trug. Angst kroch in ihm hoch, wenn er daran dachte, dass sie bald wieder gebären würde. Bevor sie Sanchia zu sich genommen hatten, war Bianca zweimal mit toten Kindern niedergekommen. Danach hatte sie noch zwei weitere Male ein Kind empfangen, aber in beiden Fällen war es schon nach wenigen Wochen zu einer Fehlgeburt gekommen. Dies war das erste Mal seit sieben Jahren, dass sie wieder ein Kind austrug, und Piero fragte sich bange, was bei dieser Niederkunft geschehen würde. Die Hebamme hatte auch keinen anderen Rat gewusst als die lapidare Begründung, dass es Gott eben gefiele, manchen Frauen keine Kinder zu gewähren, egal wie sehr es sie danach gelüstete, Mutter zu sein.
An diesem Abend machte er früher mit der Arbeit Schluss als üblich. Normalerweise schlief Bianca schon lange, wenn er es – meist erst weit nach Mitternacht – endlich schaffte, seine Werkzeuge beiseitezulegen. Heute zwang er sich, schon beim Vesperläuten aufzuhören, denn er sagte sich, dass er seiner Frau mehr schuldete als die regelmäßige Anwesenheit zu den Mahlzeiten. Sogar zu diesen kam er oft zu spät oder gar nicht, und wenn der Priester, der jeden Sonntag die Messe las, sein Amt ernster genommen hätte, wäre Piero schon längst der Exkommunikation anheimgefallen. Nicht nur, weil er so oft den Kirchgang verpasste, sondern weil er an den Sonntagen womöglich noch mehr arbeitete als die Woche über.
Doch natürlich wagte der Priester nicht, ihn zu maßregeln. Die Scuola hielt ihre schützende Hand über einen ihrer besten Meister, dessen Fenster sogar im Dogenpalast zu finden waren. Unter all den Fioleri der Insel fand sich kaum einer, der mehr Ansehen genoss. Er hätte hundert Leben gebraucht, um alle Aufträge zu bewältigen, die ihm angetragen wurden, und so sah man es ihm nach, dass er den Tag des Herrn missachtete. Dafür musste er sich allerdings hin und wieder mit einem Entsandten des Rates der Zehn herumärgern, der ihn mit neugierigen Fragen von der Arbeit abhielt. Piero hatte sich in all den Jahren immer noch nicht
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