Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Im Volk galt er als Held, und die Mitglieder des Rates sahen sich außerstande, den Frate, wie er im Volk genannt wurde, bei der Neuordnung der allgemeinen Amtsgeschäfte zu ignorieren. Die Signoria wies ihm die offizielle Rolle eines Ratgebers und Schiedsrichters bei der Regierungsbildung zu. Das Ergebnis war eine Art Demokratie im Stil des Großen Rates von Venedig, vom Volk größtenteils begeistert aufgenommen, von einigen jedoch mit Skepsis betrachtet.
Wer von den Bewohnern Florenz’ gehofft hatte, im neuen Jahr besser dran zu sein oder auch nur halbwegs zur Normalität zurückkehren zu können, sah sich jedoch getäuscht. Die Banken und Handwerksbetriebe waren wegen der Unruhen zu lange geschlossen geblieben, die Ernte wegen der anhaltenden Unwetter und der durchmarschierenden Truppen schlecht ausgefallen und zum Teil vernichtet. Die Märkte blieben leer, die Menschen fingen an, Hunger zu leiden.
Der neu ernannte Prophet wetterte von seiner Kanzel gegen die Unterdrückung und Ausbeutung der Armen und regte an, die Reichen zu enteignen, um Almosen an das Volk zu verteilen. Seine Aufrufe ergingen mittlerweile nur noch im Beisein von Männern – Frauen war der Zutritt zu den Predigten verboten worden. Die meisten focht es nicht an, sie hatten genug damit zu tun, Essen für ihre Familien auf den Tisch zu bringen.
Im Haushalt von Giulia Vecellio wurde indessen aufgetischt wie eh und je, denn wer genug Geld hatte, konnte auch in diesen schlechten Zeiten ausreichend Nahrungsmittel und Kohle zum Heizen kaufen. Der Schwarzhandel blühte, und die Preise für gutes Fleisch, Wintergemüse und frisches Brot stiegen ins Unermessliche.
Savonarola steckte Kinder in weiße Engelsgewänder und ließ sie singend und betend durch die Straßen marschieren, um milde Gaben für die Armen zu sammeln. Die Aktionen seiner Angeli stießen nicht überall auf Gegenliebe, denn die jungen Männer, die mit großen Säcken und dicken Knüppeln diese Sammeltrupps begleiteten, sorgten oft für kräftige Prügel, wenn nicht schnell genug gespendet wurde.
Eleonora, die mittlerweile eine Küchenmagd als Hilfe hatte und wegen ihres wachsenden Leibesumfangs nur noch einmal in der Woche auf den Markt ging, ließ sich bei ihren Einkäufen von Girolamo begleiten. Ungerufen und regelmäßig kam er alle paar Tage und war rasch ein fester Pfeiler im Ablauf ihres Alltags geworden. Seine Hilfsdienste für Giulias Haushalt bedeuteten für ihn eine zuverlässige Einnahmequelle, dringend benötigtes Geld, mit dem er dazu beitragen konnte, die Familie seiner Schwester über Wasser zu halten. Sanchia hatte ihm einmal etwas außer der Reihe zustecken wollen, doch er hatte es abgelehnt und mit Gesten zu verstehen gegeben, dass Giulia ihm mehr als genug gab. Der stumme Riese war der launischen und unberechenbaren Kurtisane kompromisslos ergeben. Für Sanchia wäre diese Haltung unverständlich gewesen, hätte sie nicht in den letzten Monaten ebenso wie alle anderen im Haus erkannt, wie Giulia wirklich war. Sie mochte sich häufig unmöglich aufführen, andere verletzen, beleidigen oder auch einfach nur mit anhaltendem Schweigen strafen – auf lange Sicht konnte sie niemandem etwas vormachen. Hinter ihrer abweisenden Fassade war sie ein vielfach verletztes, bis ins Innere verstörtes Kind. Sie hatte zu viel gesehen und zu viel Leid erlebt, und während Sanchia und Eleonora eine größtenteils behütete Jugend im Kloster gehabt hatten, war Giulia notgedrungen früh erwachsen geworden. Einmal hatte sie beiläufig erwähnt, dass sie mit zehn Jahren das erste Mal an einen Mann verkauft worden war. Danach hatte sie über diesen Aspekt ihres Lebens nicht mehr offen geredet, aber das Wissen darum stand seither im Raum.
Davon abgesehen war sie nicht nur großzügig bis zur Verschwendung, sondern auch mit einer geradezu bestürzend klaren Vernunft gesegnet. Sanchia hatte selten einen Menschen kennen gelernt, der so pragmatisch dachte und handelte. Giulia wog in jeder Situation blitzschnell alle Vorteile gegen die denkbaren Nachteile ab und nahm bei ihren Entscheidungen weder Rücksicht auf sich noch auf andere. Sie tat immer genau das, was sie in die Richtung des jeweils angestrebten Ziels führte. Ihre einzige Schwäche war ihr Sohn.
»Meine Liebe zu ihm ist gegen jede Vernunft«, klagte sie einmal, als er ihr mit einem für ihn ungewohnten Anfall von Trotz jeden Wind aus den Segeln genommen hatte. »Ich sollte ihn ins Bett schicken, aber hier sitze ich und lasse
Weitere Kostenlose Bücher