Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
ihn noch mit den Kätzchen spielen, nur weil er es will! Wie kann ich so weich sein?«
Giulia hatte keine Bedenken, hin und wieder eines der Hausmädchen anzubrüllen oder gar zu ohrfeigen, und sie fand nichts dabei, pausenlos auf Eleonora herumzuhacken, doch ihren Sohn behandelte sie stets mit ausgesuchter, gleichmäßiger Freundlichkeit und nie versiegender Geduld. Während der ganzen Zeit hatte Sanchia nicht einmal erlebt, dass sie Marco gegenüber laut geworden wäre, geschweige denn die Hand gegen ihn erhoben hätte. Dennoch war er nicht verzogen oder frech, immerhin besaß seine Mutter in ihrem kleinen Finger mehr natürliche Autorität als jede andere Frau, mit der Sanchia je zu tun gehabt hatte – Albiera vielleicht ausgenommen.
In der ersten Märzwoche stand Giulia eines Morgens nicht auf, weil sie sich schwach fühlte und Fieber hatte. Sie ging nicht mit zur Sonntagsmesse und blieb auch in den darauf folgenden Tagen in ihrem Zimmer. Sanchia bot ihr an, sie zu untersuchen, aber Giulia lehnte es ab und behauptete, es würde von allein vorübergehen. Doch in der zweiten Woche ihrer Krankheit hütete sie immer noch das Bett und konnte kaum auf den Nachttopf gehen vor Schwäche. Sie ließ sich von der Magd das Essen bringen und mit sauberer Wäsche versorgen, sonst ließ sie niemanden zu sich, nicht einmal den Kleinen, weil sie Angst hatte, ihn anzustecken.
Sie gingen alle auf Zehenspitzen durchs Haus, und die Besorgnis war fast mit Händen zu greifen. Am darauf folgenden Sonntag klopfte Sanchia an die Tür von Giulias Kammer.
»Geh weg«, kam es mit schwacher, aber eindeutig ungehaltener Stimme vom Bett.
»Wenn du gesund bist, gehe ich wieder. Bist du krank, werde ich dich untersuchen.« Sanchia trat in das abgedunkelte Zimmer und umrundete das Bett, eine mit bestickter Seidenwäsche und feinsten Damastlaken überladene Insel inmitten des überheizten Raums. Die Luft war zum Ersticken, es stank nach Schweiß, Parfum und Krankheit. Der Spiegel an der Wand neben dem Bett war mit einem Tuch verhängt.
Sanchia achtete nicht auf Giulias Proteste und stieß die Läden auf. Mit Schwung öffnete sie ein Fenster. »Hier drin kann kein Mensch atmen, und falls du nicht schon krank wärst, würdest du es ganz sicher allein von den üblen Gerüchen werden.«
Sie wandte sich zum Bett um und holte scharf Luft. Sie erkannte sofort, dass es keine normale fiebrige Erkältung war, wie sie die ganze Zeit über angenommen hatte. In dem Versuch, ihre Bestürzung über den Anblick der Kranken zu verbergen, lächelte sie Giulia an und trat ans Fußende.
Giulia versuchte, ihren Kopf abzuwenden und hielt das Laken vor ihr Gesicht, doch es war zu spät. Sanchia hatte bereits gesehen, dass ein großer Teil der herrlichen roten Haare ausgefallen war. Giulias sonst immer füllige Lockenpracht sah aus wie von Motten zerfressen. Im fahlen Licht der frühen Sonne leuchteten die Pusteln auf ihren bloßen Armen und ihrem Hals wie rötliche Mahnmale. Derbe, kupferrote Knoten wechselten mit dicken violetten Papeln und nässenden, entzündeten Kratern. Die Haut war überall an den sichtbaren Stellen aufgekratzt und wund.
»Schau mich nicht so an! Ich weiß, wie komisch ich aussehe!«
»Ich bin gewiss nicht hier, um über dich zu lachen.« Sanchia setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Hattest du das schon einmal?«
Giulia schüttelte stumm den Kopf.
»Hattest du vor einigen Wochen ein Geschwür in deiner Schamgegend?«
Giulia dachte nach und nickte dann zögernd. »Ich hab’s nicht beachtet, weil es nicht wehtat und dann von allein wegging.« Sie atmete tief durch. »Es ist die Franzosenkrankheit, nicht wahr? Ich habe davon gehört.«
Sanchia nickte beklommen. Abrückende Teile des Franzosenheeres schleppten die Krankheit vom belagerten Neapel aus in alle Teile des Landes und über die Grenzen. Überall, wo sie auftrat, machte sich Entsetzen breit. Sanchia hatte selbst schon einige Fälle behandelt, hauptsächlich bei Marketenderinnen, die krank zurück in die Stadt gekommen waren und dort ihrerseits für eine weitere rasche Ausbreitung der Seuche gesorgt hatten.
Es hieß, Cristoforo Colombo und seine Seefahrer hätten die Lues venerea von ihren Reisen aus der neuen Welt mitgebracht, während andere behaupteten, die Franzosen seien die Urheber der neuen Seuche – daher auch der im Volk gebräuchliche Name. Tatsache war, dass das Heer König Karls nicht unerheblich an der landesweiten Ausbreitung der Krankheit beteiligt war. Die
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