Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Schicksalsergebenheit der vorangegangenen Wochen ebenso ab wie die allgegenwärtige Angst vor dem drohenden Unglück. Plötzlich schien sich alles in Wohlgefallen aufzulösen. Die ganze Strecke von der Porta San Frediano über den Arno hinweg bis hin zum Domplatz und weiter bis zum Palast der Medici war von Menschen gesäumt, die auf die Ankunft der Armee warteten. Für die Reichen waren Tribünen aufgebaut worden, von denen aus sie eine bessere Aussicht auf die Eroberer genießen konnten. Die schlichte Tatsache, dass dieser Tag für die Stadt eine Schmach bedeutete, die in Jahrhunderten nicht ihresgleichen gefunden hatte, schien gänzlich in Vergessenheit geraten zu sein. Florenz wurde buchstäblich mit Pauken und Trompeten dem einrückenden Feind ausgeliefert, und alle fanden es durchaus angemessen und passend.
Abordnungen der Ratsmitglieder, Gelehrte und andere Ehrenpersonen begaben sich in festlich geschmückten Gewändern zum Stadttor, um den König zu empfangen. Dort mussten sie allerdings stundenlang unverrichteter Dinge im Nieselregen ausharren, bis das gewaltige Heer des Eroberers sich durch die Porta San Frediano gewälzt hatte, ein endlos scheinender Tross tausender berittener Söldner und schwerbewaffneter Fußsoldaten. Fanfarenstöße begleiteten den Zug, der wie eine monströse Schlange in die Stadt quoll und sich anschließend als waffenstarrendes Gewimmel in die Straßen und auf die Plätze ergoss. Der Lärm und das Gedränge waren unbeschreiblich, und hätte Sanchia nicht zu Zeiten des Karnevals in Venedig weit lautere und buntere Menschenansammlungen erlebt, wäre sie vermutlich dem Drang gefolgt, sich rasch irgendwo zu verstecken.
Giulia und Eleonora zogen es vor, die Ankunft des Heeres unbeachtet zu lassen. Sie blieben zu Hause. Sanchia hätte ebenfalls lieber auf den Anblick verzichtet, doch sie kam auf dem Rückweg von einer Geburt an Santa Maria del Fiore vorbei, just in dem Augenblick, als der König dort eintraf. Karl war noch jung, keine fünfundzwanzig. Er saß auf einem prächtig geschmückten Schlachtross und reckte seine übergroße Hakennase gelangweilt in die Luft. Im Regen wirkte seine ganze Erscheinung nicht besonders majestätisch, sondern eher zerknittert und völlig durchnässt. Ihm war deutlich anzumerken, dass er wenig Gefallen an diesem inszenierten Triumphzug fand.
Sanchia sah im Vorübergehen, dass seine Körpergröße ungefähr der von Giustiniano entsprach, und sie fragte sich unwillkürlich, wie dieser Zwerg von seinem riesigen Pferd absteigen konnte, ohne auf die Nase zu fallen.
Am Portal des Doms stand Savonarola inmitten seines Gefolges von Mönchen und wartete auf den Monarchen, offenbar, um sicherzustellen, dass dieser sein Haupt vor der einzigen Autorität beugte, die hier und allerorts die wahre Herrschaft innehatte. Und so kletterte König Karl VIII. von Frankreich mithilfe zweier hoch gewachsener Knappen mühselig von seinem Gaul und durchschritt unter den Hochrufen der Umstehenden das Spalier der höchsten Bürger von Florenz, um im Dom vor dem Hauptaltar niederzuknien und zu beten.
Sanchia kämpfte sich durch die Menge weiter und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
Im Rückblick erschien ihr das Gastspiel der Franzosen in der Stadt wie ein merkwürdiger Traum. Kaum waren sie eingerückt, waren sie auch schon wieder weitergezogen.
Es wurde ein Vertrag aufgesetzt, der die von Piero de’ Medici ausgehandelten Zugeständnisse abmilderte und allen Beteiligten ermöglichte, ihr Gesicht zu wahren. Sogar die Verbannung der Medici wurde aufgehoben und auf ein paar Monate begrenzt. Die Rückkehr zur Macht war ihnen verwehrt, aber ihre Güter sollten ihnen bleiben. Giulia frohlockte, als sie davon hörte.
Kaum war die Tinte auf dem Kontrakt trocken, beeilte sich Karl auch schon, mit seinen Soldaten die Stadt zu verlassen. Sein eigentliches Ziel hatte er nicht aus den Augen verloren, und dieses war nach wie vor Neapel, das er unter seine Krone zwingen wollte. Und auf seinem Wege lag Rom mit den abwehrbereiten Truppen des Papstes. Seinem Heer stand noch ein harter Winter bevor, und den konnte er nicht in der Toskana vertändeln. Ende November zogen die letzten Truppenteile aus der Stadt ab, und die Adventszeit begann frei von Kriegsangst und Belagerungsszenarien.
Wie erwartet, wurde Savonarola eine Machtposition in Florenz eingeräumt. Er hatte maßgeblich an den Verhandlungen vor dem Abzug der Franzosen mitgewirkt und nahm den Erfolg für sich allein in Anspruch.
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