Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Ungewissheit darüber, was der Einmarsch der Franzosen mit sich bringen würde, oder das sichere Wissen, dass das Leben, wie sie es hier kannten, bald enden würde. Quälend war in jedem Fall, dass sie rein gar nichts tun konnten, um die Situation zu ändern.
»Es ist wie die Ruhe vor dem Sturm«, sinnierte Eleonora. Seufzend schob sie sich eine weitere Praline in den Mund und streckte die Füße aus, um sie an den Kaminkacheln zu wärmen.
»Ich weiß, dass ich es hier gut habe«, fuhr sie fort. »Aber wie kommt es, dass ich trotzdem unzufrieden bin? Warum habe ich nur immer das Gefühl, dass ich hier am falschen Ort bin?«
»Deine Heimat ist Venedig.«
Eleonora schüttelte den Kopf. »Daran liegt es nicht, das weiß ich.«
»In deinem Leben hat es in den letzten Monaten viele Veränderungen gegeben, du brauchst Zeit, dich umzugewöhnen und neue Wurzeln zu schlagen. Lass erst dein Kind auf die Welt kommen, dann wird es besser werden.«
»Das sagst du mir, aber du glaubst selbst nicht daran«, stellte Eleonora fest.
Sanchia sann über diese Worte nach und nickte schließlich langsam. »Du hast Recht. Es wäre eine Lüge, wenn ich es abstreiten würde. Ich habe hier alles, was ich brauche. Menschen, denen ich helfen kann. Gutes Essen, ein schönes Zimmer. Dich und Marco. Nur eines stimmt nicht: Hier ist nicht mein Zuhause. Und das wird sich vermutlich auch nicht ändern.«
»Wo ist denn unser Zuhause?«, fragte Eleonora. »In San Lorenzo? Möchtest du ins Kloster zurück?«
»Das habe ich mich schon öfter gefragt.« Geistesabwesend flocht Sanchia ihren Zopf auf. »Ich weiß es nicht. Nein, wohl eher nicht. Wir haben zu viel anderes gesehen. Die Weite des Landes und des Himmels. So viele neue Menschen.« Sie schaute auf ihre Finger und sah, dass sie von der Kohle schwarz verfärbt waren. Sie rieb sie gegeneinander und wischte sie dann zerstreut an der Innenseite ihres Rocks ab. »Es war Furcht erregend und strapaziös, aber es war auch neu und aufregend. Kein Tag war wie der andere. Das hatten wir in San Lorenzo nie. Selbst wenn wir wieder zurückkönnten: Es wäre nicht mehr dasselbe.« Sanchia brachte es auf den Punkt. »Das Kloster ist für Kinder und alte Frauen. Für dich und mich war es schon längst zu eng.«
»Ich hätte auf Murano zufrieden sein können, mit Pasquale.«
Das glaubte Sanchia ihr ohne jede Einschränkung, nur hatten sich die Dinge bedauerlicherweise anders entwickelt. Immerhin hatte sie Eleonora seit ihrer Flucht nie so froh gesehen wie in dem Augenblick, als Sanchia ihr von Pasquales Verbannung erzählt hatte. Tagelang war sie durch die Gegend geschwebt wie auf Wolken. Abend für Abend kniete sie vor dem Madonnenstandbild in ihrer Kammer und sprach inbrünstige Dankgebete.
Erst nach einer Weile war sie dahintergekommen, dass er zwar frei war, sie aber vermutlich nie herausfinden würde, wo er sich aufhielt, und dass es umgekehrt nicht anders war. Sie hatten auf ihrer Flucht quer durch das Land streng darauf geachtet, so wenig wie möglich unter Menschen zu kommen. Meist waren sie abseits der üblichen Routen gewandert und hatten in abgelegenen Gehöften übernachtet. Es musste schon ein sehr glücklicher Zufall sein, der Pasquale bei eventuellen Nachforschungen auf jemanden stoßen ließ, der ihre kleine Reisegruppe gesehen hatte und sich an sie erinnerte.
»Warst du als Kind auf Murano glücklich?«, fragte Eleonora unvermittelt.
»Ja, natürlich.«
»So natürlich ist das nicht. Ich lebte als Kind in einem schönen großen Palazzo am Canalezzo, mit meinen Eltern und meinem Bruder. Trotzdem war ich nicht glücklich. Meine Mutter hat dauernd geweint, und mein Vater hatte andere Frauen. Er hat Mutter geschlagen. Und dann ist zuerst mein großer Bruder gestorben und später das Baby. Und danach Mutter und Vater.« Eleonora atmete scharf ein, und Leid verzerrte ihre Züge. Im nächsten Augenblick fing sie an zu weinen. »Was ist, wenn mein Baby stirbt? Dann habe ich niemanden mehr!« Schluchzend barg sie das Gesicht in den Händen und wiegte sich vor und zurück.
Sanchia stand auf und kniete sich vor den Lehnstuhl, in dem Eleonora saß. Sie zog ihr die Hände vom Gesicht und sah sie eindringlich an. »Was immer passiert, du bist nicht allein. Ich werde bei dir sein.«
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