Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Fenster, wie lange kann es dem nagenden Zahn der Zeit trotzen? Fünfzig Jahre? Hundert? Wer kennt jetzt noch den Mann, der es gemacht hat? Wer gedenkt seiner? Wer spricht noch von Piero Foscari, dem Glasmacher?«
Lorenzo fühlte sich bis ins Innerste getroffen. Der Glasmacher war lange tot, und tatsächlich sprach niemand mehr von ihm. Seine Fenster mochten noch eine Weile, vielleicht sogar einige Jahrzehnte, Zeugnis für seine Kunst ablegen, aber er selbst war in Vergessenheit geraten. Doch es hatte eine junge Frau gegeben, die seiner gedacht hatte – bis sie ebenfalls alles Irdische hinter sich gelassen hatte. Und hier wiederum stand er, ihr Geliebter, und gedachte ihrer, bis auch seine Zeit abgelaufen wäre.
Er wandte sich ab und verließ den Saal, um nach oben aufs Dach zu gehen.
Der Kleine schrie und hustete abwechselnd, und Eleonora wandte sich zu Sanchia um, Verzweiflung in den Augen. »So geht es schon die ganze Zeit, es hört nicht auf!«
Sanchia wartete, bis der Hustenanfall vorüber war, dann legte sie die flache Hand auf Agostinos Bauch. Er hatte Fieber, aber es war nicht so hoch wie in den anderen Fällen, die sie heute schon behandelt hatte.
»Der Husten grassiert im Augenblick«, sagte sie. »Im ganzen Viertel sind Kinder betroffen.«
Sie verschwieg, dass schon einige daran gestorben waren. Voller Sorge sah sie zu, wie Eleonora den leise röchelnden Jungen aus seinem Bettchen hob und ihn an sich drückte. Er lag erschöpft an der Schulter seiner Mutter, die Ärmchen schlaff herabhängend. Sanchia gab ihrem Bedürfnis nach, ihn zu berühren. Sie strich dem Kleinen über das schweißfeuchte Haar und fuhr ihm mit den Fingerspitzen sacht über die Öhrchen, und er schaute sie einen Moment lang aus Pasquales Augen an. »Sa,« sagte er krächzend.
»Er ist so krank, dass er nicht mal zur Amme will«, klagte Eleonora. »Das ist noch nie vorgekommen!«
»Ich trage eine Brustsalbe auf, und Cornelia kann ihm süßen Zitronensaft mit Kräutern einflößen. Für den Anfang wird ihm das ein wenig helfen.«
Der Rest lag, wie immer in solchen Fällen, in Gottes Hand. Sanchia verfluchte ihre Machtlosigkeit und das Entsetzen, das jedes Mal über sie kam, wenn sie ein schwerkrankes Kind sah. Gestern tollten sie noch ausgelassen vor den Häusern herum, und am nächsten Tag lagen sie schwitzend und hochrot vor Fieber in ihren Bettchen, die Augen getrübt und nach innen gewandt, als könnten sie bereits den Schimmer einer anderen Welt vor sich sehen. Manche erholten sich ebenso rasch, wie sie sich angesteckt hatten, während andere dahinwelkten wie Blüten im Regen, so rasend schnell, dass kaum drei Tage zwischen dem Ausbruch des Fiebers und dem letzten Atemzug lagen.
Sanchia war insgeheim davon überzeugt, dass Agostino bald von dem Fieber genesen würde. Die Krankheit war ansteckend, so viel war sicher. Sie ging mit rasselndem Husten, Halsentzündung und hohem Fieber einher. In manchen Fällen kam heftiger Durchfall hinzu, der von starken Koliken begleitete wurde. Aber die Kinder, die sie in den letzten Tagen hatte sterben sehen, waren allesamt schlecht genährt gewesen, von Würmern und Flöhen befallen und durch andere Krankheiten vorbelastet. Sie entstammten ausnahmslos Familien, die in bitterer Armut, teilweise sogar in beständigem Hunger lebten.
»Leg ihn hin, und dann lass uns reden.«
»Er braucht mich jetzt. Und worüber sollten wir schon reden.« Eleonoras Stimme klang beiläufig, doch sie schaute Sanchia dabei nicht an.
»Was er vor allem braucht, sind Schlaf und Ruhe. Leg ihn hin und komm mit in unsere Kammer.«
Eleonora gehorchte mit sichtlichem Widerwillen, und während sie Agostino hinlegte und zärtlich über seine Stirn strich, konnte Sanchia die Furcht in ihren Augen erkennen. Ihr war nicht klar, was Eleonora mehr ängstigte, die bevorstehende Aussprache oder die Krankheit ihres Sohnes. Doch mit beidem musste sie sich notgedrungen auseinandersetzen.
»Wie lange kennen wir uns jetzt?«, begann Sanchia das Gespräch, nachdem sie die Tür zu ihrer Schlafkammer hinter sich zugezogen hatte. Sie setzte sich auf ihren Lehnstuhl am Fenster und tat so, als müsse sie einige Schriftstücke ordnen, damit Eleonora die Gelegenheit hatte, sich zu sammeln, ohne sich gleichzeitig unter forschenden Blicken winden zu müssen.
»Ich weiß nicht. Zehn Jahre, oder elf.«
»Es sind mehr als dreizehn Jahre. Waren wir nicht immer die besten Freundinnen, fast wie Schwestern?«
Eleonora nickte widerstrebend.
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