Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
nickte sie langsam. Offenbar hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen, und zwar buchstäblich.
»Ich weiß nicht, warum es mit ihm so ist!« In einer Mischung aus Scham und Zerstreutheit zwirbelte Eleonora ihre Zöpfe. »Er ist so … Ich bin so … Er und ich … Ach, du wirst es sowieso nicht verstehen.«
»Woher willst du das wissen?«
Eleonora erwiderte ihren Blick, zuerst misstrauisch, dann ungläubig. »Du meinst, du hast das auch erlebt? Dieses … sündige, unkeusche Gefühl?« Sie schluckte. »Ich weiß, dass ich dafür in die Hölle komme, aber ich brate lieber für alle Ewigkeit dort, als auf ihn zu verzichten. Es ist stärker als ich. Stärker als jede Macht auf der Welt. Es gibt einfach nichts, was ich mehr will.« Sie besann sich. »Außer natürlich, dass Tino rasch wieder gesund wird.« Eifrig fuhr sie fort: »Es ist nicht nur das allein, Sanchia. Nicht, dass du meinst, ich wäre ein so verdorbenes Geschöpf, das es nur darauf anlegt, sich immerfort der Fleischeslust hinzugeben! Du musst wissen, ich liebe an ihm auch seinen Frohsinn. Er ist kein dummer Witzbold, er kann auch ganz ernst sein. Aber meist ist er unglaublich lustig! Wenn man mit ihm zusammen ist, gibt es ständig Grund zum Lachen! Ich freu mich einfach, wenn ich ihn sehe! Er lächelt und zwinkert und gibt alberne Sprüche von sich, den ganzen Tag! Das Lachen ist sein ständiger Begleiter. Und wie er mit dem Kleinen scherzt! Tino geht es wie mir. Er liebt ihn.« Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. »Pasquale habe ich auch geliebt, das schwöre ich bei der Heiligen Jungfrau. Aber er hat eigentlich nie gelacht.«
Damit hatte sie zweifelsohne Recht. Vielleicht lag es daran, dass Pasquale in seinem Leben nicht viel Erheiterndes erfahren hatte.
Sanchia stemmte sich auf die Füße. Ihr Rücken und ihre Glieder schmerzten, als hätte sie Prügel bezogen. Langsam trat sie vor den Spiegel, den Pasquale gemacht hatte. Ihr Gesicht war blass und angespannt.
»Falls er kommt – sprichst du dann mit ihm?«, flüsterte Eleonora hinter ihr. »Wenn alles gut geht, bin ich eine verheiratete Frau und lebe in Rom, bevor er auftaucht. Aber wenn nicht … Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll!« Ihre Stimme wurde zu einem Flehen. »Bitte!«
Sanchia nickte müde. Was hätte sie auch sonst tun sollen?
Der Mann, der das Mädchen in die Halle des Ospedale di San Lorenzo trug, war elegant gekleidet, aber die Rotweinflecken auf seinem mit hellem Samt abgesetzten Wams und der Gestank nach Alkohol, der ihn wie eine Wolke umgab, beeinträchtigten seine vornehme Erscheinung erheblich. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Gesicht war grau, und er wirkte erschöpft. Als er sprach, klang seine Stimme leicht verwaschen. Er hatte ganz offensichtlich eine durchzechte Nacht hinter sich.
»Wo soll ich sie hinlegen?«
»Folgt mir«, sagte Simon.
Der Mann trug das Mädchen auf Simons Geheiß in eines der Krankenzimmer, wo er sie auf das bereitstehende Lager bettete. Nachdem er sich seiner Last entledigt hatte, schnaufte er heftig, als sei er eine weite Strecke gerannt. Er konnte höchstens dreißig sein und war bis auf einen leichten Hang zur Magerkeit sicherlich kräftig genug, um ein leichtgewichtiges Mädchen von der Anlegestelle bis ins Spital zu tragen, aber die nächtlichen Ausschweifungen hatten ihn vermutlich viel Kraft gekostet.
Das Mädchen war höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt. Von ihrem Gesicht war nicht mehr viel zu erkennen. Es war durch grausame Schläge entstellt. Die Oberlippe war aufgeplatzt, einer der vorderen Schneidezähne im Oberkiefer fehlte. Die blutige Lücke ließ keinen Zweifel daran, dass er ihr erst vor Stunden ausgeschlagen worden war.
»Bleibt«, herrschte Sanchia den Mann an, der sich schweigend zurückziehen wollte. Bislang hatte sie sich im Hintergrund gehalten, aber nun stellte sie sich zwischen den Patrizier und den Ausgang. »Ihr müsst zuerst Rede und Antwort stehen!«
»Warum?«, fragte er überrascht. »Ich habe sie hergebracht und damit meiner Christenpflicht Genüge getan. Ich kenne dieses Geschöpf überhaupt nicht.«
»Wie seid Ihr dann dazu gekommen, sie herzubringen?«
»Sie lag heute Morgen in meiner Gondel. Ich fand sie, als ich von einer Feier kam. Ich konnte sie wohl schlecht ins Wasser werfen, oder? Da ich auf dem Heimweg ohnehin hier vorbeirudern musste, hielt ich es für eine gute Idee, sie hier abzuladen.«
Allein der Ausdruck abladen brachte Sanchia zum Frösteln. Sie wechselte
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