Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Sie setzte sich halb abgewandt auf einen Schemel und verschränkte die Hände im Schoß wie ein gescholtenes Kind.
»Haben wir uns nicht immer gegenseitig all die Kümmernisse anvertraut, die uns belasteten?«
Sie hatte die falschen Worte gewählt, Sanchia bemerkte es sofort an der störrischen Art, wie Eleonora die Lippen aufeinanderpresste. »Das stimmt nicht. Ich erinnere dich nur an deinen Briefwechsel mit Lorenzo. Er wollte mich heiraten, und du hast ihn mir weggeschnappt.«
So hatte es sich keineswegs zugetragen, aber es war nicht zu leugnen, dass Eleonoras Aussage zumindest die Wahrheit streifte.
Mit ihren nächsten Worten fasste Eleonora zusammen, worauf es ankam. »Du hattest damals eine Menge Geheimnisse vor mir. Und nachdem du dann Jahre später mit Lorenzo zusammengekommen warst, hast du es mir auch nicht erzählt. Jedenfalls nicht gleich.«
Sanchia konnte es schlecht abstreiten. »Das war damals, und heute ist heute. Kannst du dir vorstellen, wie sehr es mich belastet, dass du mir etwas Wichtiges verschweigst? Dass ich in jeder deiner Gesten und jedem seiner Blicke spüre, wie du dich quälst? Dass du nicht nur versuchst, etwas vor mir zu verbergen, sondern dass du dich auch selbst betrügst, indem du so tust, als sei alles in Ordnung?«
Mehr brauchte es nicht, um bei Eleonora den Damm des Schweigens einzureißen. Sie brach augenblicklich in Tränen aus. Laut aufheulend warf sie sich aufs Bett, so, wie sie es früher schon immer in den Momenten größten Kummers getan hatte, als sie sich noch in San Lorenzo eine Kammer geteilt hatten. Schluchzend und das Gesicht in den Händen vergraben, blieb sie mit zuckenden Schultern auf dem Bauch liegen, ein Bild des Jammers. Und des schlechten Gewissens.
»In der Truhe«, weinte sie. »Ganz unten unter dem arabischen Schleier.«
Der arabische Schleier war ein mit naiven Haremsmotiven bemaltes Seidentuch, groß genug, um es sich um die Hüften zu binden und bei Kerzenlicht und eingebildeten Zimbelklängen vor dem Spiegel zu tanzen, mit gesenkten Lidern und lasziven Bewegungen, ganz so, wie es sich für die erste Haremsdame eines unermesslich reichen Sultans geziemte. Während Sanchia in Eleonoras Truhe nach dem zuunterst liegenden Geheimnis kramte, erinnerte sie sich an diese Tanzvorstellungen, die sie und Eleonora einander gegeben hatten. Es war sicher zehn Jahre her, aber den Schleier hatte Eleonora aufgehoben.
»Weißt du noch, wie wir gelacht haben?«, fragte sie in dem hilflosen Bemühen, sich selbst einen kleinen Aufschub zu verschaffen. Ihre Finger hatten das steife Papier des Briefes unter der Seide ertastet. Es war nicht schwer zu erraten, von wem er war.
»Natürlich weiß ich es noch«, schluchzte Eleonora. »Ich kann vieles vergessen, all das Üble und Gemeine kann ich fast ganz aus meinen Erinnerungen streichen, es ist gar nicht so schwer, man muss nur an etwas Schönes denken. Aber die wirklich wunderbaren Dinge – wie soll ich das denn jemals vergessen können?«
Sie sprach nicht von ihren gemeinsamen Schleiertänzen, und sie wussten es beide.
Sanchia entrollte das Pergament und las Pasquales Zeilen. Der Brief war so voller Hoffnung und Freude, dass Sanchia ihn am liebsten wieder unter dem Seidentuch versteckt hätte, weil sie es kaum ertragen konnte. Er hatte ihn verfasst, als er erfahren hatte, dass sie noch am Leben waren. Nie hätte er geglaubt, noch einmal von ihnen zu hören, schrieb er. Überall hatte es geheißen, sie seien tot. Er beschrieb, wie er rund um Chioggia nach ihnen geforscht hatte, nachdem man ihn in die Verbannung geschickt hatte. Wie furchtbar es gewesen sei, nirgends ein Lebenszeichen von ihnen zu entdecken. Dass sich durch den Hunger und den kalten Winter sein Beinstumpf entzündet hatte und dass er fast ein Jahr nicht mehr hatte laufen können. Ein durchreisender Medicus hatte ein weiteres Stück vom Stumpf amputiert, danach sei es besser geworden, und Pasquale hatte seine Suche fortsetzen können. Plötzlich eine Botschaft von Eleonora zu erhalten, aus der Hand eines Wirtes in einer Herberge, war die größte und schönste Überraschung seines Lebens gewesen. Der Brief endete mit der genauen Beschreibung seines Aufenthaltsortes.
Die Schrift war geübt und schwungvoll, er hatte ihn ganz offensichtlich einem Schreiber diktiert. Die Unterschrift stammte hingegen von ihm selbst, ein paar krakelige lateinische Buchstaben, bei denen die A’s verkehrt herum standen. Dieser rührend unzulängliche, unter Mühe
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