Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
er deswegen geflohen? Weil er die Wahrheit kennt?« Sie dachte nach, dann nickte sie. »Natürlich. Er weiß es, deshalb musste er sein Leben retten! Denn auch, wenn er vielleicht gar nicht vorhatte, die Wahrheit zu offenbaren, so musste er doch davon ausgehen, dass die Familie Borgia auf jeden Fall schon die bloße Möglichkeit eines solchen Skandals verhindert! Er hatte das Messer praktisch schon an der Kehle.« Sie hielt inne. »Oder das Gift in seinem Becher, wie auch immer. Jedenfalls war das der Grund für seine überstürzte Flucht! Habe ich Recht?«
Lucrezia setzte sich auf und rieb sich die Augen wie ein kleines müdes Kind. »Versteht Ihr jetzt, in welcher Lage ich bin?«
»Nein, nicht unbedingt«, erwiderte Sanchia grimmig. »Wenn Ihr Euren Ehemann so gern habt, ist es kaum nachvollziehbar, dass nicht er der Vater Eures Kindes ist.«
»Würdet Ihr mein Leben kennen, würdet Ihr nicht so reden.«
»Nun, dazu kann ich Euch nicht viel sagen. Was ich aber weiß, ist Folgendes: Ich habe noch nie eine Abtreibung vorgenommen und werde es auch niemals tun. Nicht viel weniger als die Hälfte der Frauen, die es machen lassen, sterben daran. Darauf kann ich Euch Brief und Siegel geben. Ihr könnt Euch genauso gut gleich aufhängen.« Sie wählte absichtlich grobe Worte, denn anders war in solchen Fällen oft kein Leben zu retten.
»Aber was soll ich denn tun?«, rief Lucrezia verzweifelt aus.
»Ihr habt die Mittel und die Möglichkeiten, Euch vorübergehend in ein verschwiegenes Frauenkloster zurückzuziehen. Als Grund könnt Ihr die seelische Belastung wegen der bevorstehenden Scheidung angeben. Das Kind könnt Ihr in Pflege geben, sobald es auf der Welt ist. Ihr könntet auch dafür sorgen, dass es in einer römischen Familie aufgenommen wird, vielleicht im Frühjahr, wenn Ihr nach der Geburt wieder auf den Beinen seid. Dann stünde es Euch sogar frei, es regelmäßig zu sehen, falls Euch Muttergefühle überkommen sollten. Ihr habt in diesem Falle sein und Euer Leben gerettet, also gleich zwei Seelen, die nicht der ewigen Verdammnis anheimfallen.«
Lucrezia blickte sie lange an, die Augen unergründliche dunkle Seen. »Meine Seele ist ohnehin in alle Ewigkeit verdammt, Sanchia.«
Im nächsten Augenblick schrak sie zusammen. »Es kommt jemand! Rasch, hinter die Wand!«
Sanchia wusste später selbst nicht zu sagen, warum sie so kopflos hinter die mit kostbarer Seide bespannte Trennwand sprang und sich zusammenkauerte wie ein Hase auf der Flucht. Sie hätte ohne weiteres am Bett Lucrezias sitzen bleiben können, schließlich war sie in der Pflege von Kranken bewandert und hatte daher gute Gründe, einem Mädchen beizustehen, das für jedermann sichtbar eine Verletzung davongetragen hatte.
Doch nachdem sie sich einmal versteckt hatte, war es natürlich für derartige Logik zu spät. Es hätte reichlich sonderbar gewirkt, wenn sie plötzlich hinter dem Wandschirm hervorgetreten wäre, als sei dies das Normalste der Welt.
Sie versuchte, so flach wie möglich zu atmen, während sie hörte, wie jemand das Gemach betrat und die Tür hinter sich schloss.
»Bist du allein?«, fragte eine gedämpfte Männerstimme.
Eine Antwort war nicht zu vernehmen, also ging Sanchia davon aus, dass Lucrezia genickt hatte.
»Wo ist Calderon, dieser kuhäugige Wicht?«
»Rede nicht so von ihm! Du weißt, dass ich ihn gern habe.«
»Das ist ja das Schlimme. Du hast sie alle gern, und sie lieben dich dafür. Wo ist er?«
»Fort. Wir sind allein.«
»Mein Gott, was hast du … Nein, lass mich sehen!« Der Mann schnappte entsetzt nach Luft und ließ gleich darauf eine Reihe spanischer Flüche hören, die ähnlich klangen wie jene, die Juan, der Lieblingssohn des Papstes, früher am Abend ausgestoßen hatte.
»Meine arme kleine Blume! Lass dich umarmen.«
Danach war nichts zu hören außer Lucrezias leisem Schluchzen.
»Er wird bezahlen«, flüsterte der Mann beschwörend. »Glaub mir, dafür bezahlt er! Ich warte seit Wochen nur auf die passende Gelegenheit!«
»Was willst du tun?«
»Das, was ich gleich hätte tun sollen, nachdem er über dich hergefallen war.«
»Nein! Bitte nicht! Er war betrunken! Er hat sich sogar entschuldigt!«
»Wofür? Dafür, dass er dir Gewalt angetan hat? Oder dafür, dass er dich dabei geschwängert hat? Oder für die Prügel, die er dir heute Nacht verpasst hat?«
»Er wusste nicht, was er tat! Er war … Als er damals das mit dir und mir rausfand, ist er rasend geworden! Und heute
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