Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Ambrosios Kropf noch seinen Exophtalmus je als faszinierend bezeichnen mögen, für sie war beides immer schlichtweg abstoßend gewesen, doch sie hielt es nicht für nötig, Maddalena darauf hinzuweisen. Die jüngere Nonne dachte anders über diese Dinge als der Rest der Menschheit. Für sie war ein krankhaft deformierter Augapfel, der in Spiritus schwamm, mit nichts zu vergleichen. Höchstens noch mit einem degenerierten Gehirn oder einer Schrumpfleber.
»Kannst du das bitte woanders hinbringen?«, bat Sanchia mit schwacher Stimme. »Ich fühle mich nicht in der Verfassung, bei jedem Blick in deine Richtung von ihm angestarrt zu werden.«
Maddalena stellte das Glas zur Seite. »Du weißt nicht zufällig, wo sich der Rest von ihm befindet, oder?«
»Im Kerker, nehme ich an. Die Büttel haben ihn geholt.«
»Oh, er lebt also noch«, sagte Maddalena. »Meinst du, man würde mich zu ihm lassen?«
»Ich glaube nicht, dass die Wachleute tatenlos dabei zuschauen, wie du ihm seine inneren Organe entnimmst. Falls du auf das andere Auge spekulieren solltest – es ist geplatzt.«
»Ich wollte mir lediglich seine Augenhöhlen ansehen«, sagte Maddalena beleidigt. »Mir ist noch kein Fall untergekommen, in dem jemand beide Augen mitsamt der kompletten Augäpfel durch Einwirkung von Gewalt verloren hat. Du musst zugeben, dass die normalen Fälle von Blendung damit keineswegs zu vergleichen sind.«
Sanchia gab keine Antwort. Sie presste ihre Lippen gegen den weichen Kopf ihres Babys und versuchte, nicht an die betäubende Leere in ihrem Inneren zu denken.
Als hätte Maddalena ihre Gedanken erraten, fragte sie: »Wo ist eigentlich dein Mann? Sollte er nicht an deiner Seite sein, nachdem dir diese schreckliche Sache passiert ist?«
Ja, dachte Sanchia bitter. Das sollte er wirklich!
»Er ist verreist.«
»Oh.« Maddalena klang betroffen. »Ausgerechnet jetzt!«
»Er konnte es vorher nicht wissen.«
»Das stimmt auch wieder. Wann kommt er denn zurück?«
»Das kann länger dauern.«
»Solltest du ihm nicht eine Depesche nachsenden?«
»Er ist in See gestochen.«
»Ach so. Und wo ist Pasquale? War er nicht gerade eben noch im Haus?«
»Ja, aber er musste fort.«
Er hatte gesagt, er wolle dringend etwas in Ordnung bringen, die Zeit dafür sei nun unwiderruflich gekommen, da das Gleichgewicht zerbrochen sei. Sanchia hatte flüchtig versucht, diese ominöse Ankündigung richtig einzuordnen, doch ihre Gedanken hatten ihr nicht gehorcht. Wenn sie sich überhaupt auf etwas konzentrieren konnte, dann höchstens auf das Entsetzen, das sie seit Stunden lähmte.
Maddalena hob lauschend den Kopf. »Ich höre Stimmen unten.«
Eleonora war eingetroffen. Sanchia hatte sie holen lassen, weil sie ein wenig Trost und Beistand brauchte und weil die Angst, in dieser Situation allein zu sein, sie fast um den Verstand brachte. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie mit ihr reden konnte. Es drängte sie danach, sich jemandem anzuvertrauen, irgendwem das Schreckliche erzählen zu dürfen, doch dann machte sie sich klar, dass es nicht recht wäre, Eleonora damit zu belasten. Niemand hatte es verdient, dieses grauenvolle Geheimnis mit ihr teilen zu müssen. Es war besser, sie gewöhnte sich daran, es für sich zu behalten.
Schon dass Ambrosio Bescheid wusste, war furchtbar genug. Sicherlich würde er keinen Augenblick zögern, es in die Welt hinauszuposaunen, sobald er Gelegenheit bekam, vor einem Gericht zu sprechen.
Eleonora kam mit der für sie üblichen Lebhaftigkeit in das Schlafgemach gestürzt, einen Hauch von kaltem Wind mit sich hereinbringend. Sie zog ihren Umhang von den Schultern und kam mit ernster Miene näher. »Mein armes Lämmchen! Was hat er dir angetan?«
»Ich lebe noch«, sagte Sanchia krächzend.
»O lieber Himmel, deine Stimme!«
»Das kommt wieder in Ordnung.«
»Das denke ich auch, dem Herrn sei Dank!« Eleonora zögerte. »Hat er …«
»Nein«, sagte Sanchia.
Eleonora stieß erleichtert den Atem aus. »Der Bote wusste es nicht. Ich habe auf dem Weg hierher gebetet, dass es dir erspart geblieben sein möge! Dennoch, ich werde sie vorsorglich herbestellen, man weiß ja nie.«
»Wen?«
»Cornelia.«
»Was soll ich mit ihr?«
»Nicht du.« Eleonora strich ihrem schlafenden kleinen Patenkind vorsichtig über das Köpfchen. »Sie. Die Kleine wird eine Amme brauchen.«
»Wozu?«, fragte Sanchia gereizt. »Mit meiner Brust und der darin befindlichen Milch ist alles in Ordnung. Ich habe Maddalena
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