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Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Thomas
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»Giovanni sagte, irgendwie hätte er mich immer als ihrer beider Sohn betrachtet, gewissermaßen gleichzeitig von ihm und Francesco, und dass er stets sein Bestes gegeben hätte, mir ein guter Vater zu sein, schließlich wäre es ja sozusagen in der Familie geblieben.«
    »O Gott!« Schwäche durchflutete sie. Sie wankte zwei Schritte zur Wand und hielt sich fest, weil sie sonst gefallen wäre.
    »Ich muss fort«, sagte er hart. »Meine Sachen sind schon gepackt. Ich bin nur gekommen, um Abschied zu nehmen.«
    Ohne ihre Erwiderung abzuwarten, trat er vor und packte sie. Er riss sie heftig in seine Arme und küsste sie, nicht wie ein Bruder, sondern wie ihr Mann. Sein Mund nahm den ihren gefangen und brandmarkte sie als sein Eigentum, und sein roher Kuss entfachte zwischen ihnen dasselbe sengende Feuer wie immer.
    Sie versuchte, ihn festzuhalten, doch er stieß sie von sich und legte eilig die wenigen Schritte zurück, die ihn von der Wiege trennten. Er fiel neben dem Bettchen auf die Knie und umklammerte mit beiden Händen die geschnitzte Umrandung.
    Sanchia wollte ihm folgen, doch in einem Anfall von Schwäche versagten ihr die Beine. Sie sank an der Wand zu Boden und blieb dort hocken, während sie ihn wie betäubt anstarrte.
    Er wandte ihr den Rücken zu, doch es war nicht zu übersehen, dass er weinte. Seine Schultern zuckten, und unterdrücktes Schluchzen drang aus seiner Brust.
    »Allmächtiger, es ist so schwer!«
    »Es weiß doch niemand«, sagte sie leise.
    Er zog sich hoch, ohne sie anzusehen. » Wir wissen es.«
    Als er zur Tür ging, hinkte er ein wenig. Anscheinend hatte er seinem Bein heute zu viel zugemutet.
    »Wo willst du hin?«
    »So weit weg wie möglich.«
    »Wann kommst du wieder?«
    Er gab keine Antwort, sondern schritt durch die Tür und ging zur Treppe, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.
    »Lorenzo!«
    Ihr verzweifelter Aufschrei blieb ohne Erwiderung. Sanchia stemmte sich hoch und taumelte zur Tür, tief durchatmend, um wieder Gefühl in ihre wackligen Beine zu bringen. Als sie die Treppe erreicht hatte, hörte sie von unten die Tür an der Landseite zufallen.
    Sie hielt sich an dem schweren geflochtenen Seil fest, das als Geländer diente, und so schnell sie konnte, eilte sie die Treppe hinunter. Als sie ins Freie trat, schlug ihr kalte Winterluft ins Gesicht und kondensierte vor ihrem Mund zu blassem Nebel. Sie rannte durch die schmale Gasse am Haus vorbei zur Fondamenta – und sah sofort, dass sie zu spät kommen würde. Er war bereits in die Gondel gestiegen und hatte abgelegt. Im hinteren Teil des Bootes lag seine Seekiste; er musste sie bereits vorher hier verstaut haben, in der Gewissheit, dass sie ihn daran gehindert hätte, sie ins Boot zu laden. Ein Zucken und Flattern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Käfig, der neben der Kiste verstaut war. Er hatte die weißen Tauben vom Dach der Ca’ Caloprini mitgenommen.
    Sanchia blieb keuchend auf der Kaimauer stehen.
    »Lorenzo!« Ihr Schrei hallte über das Wasser, doch er wandte sich nicht einmal um.
    Das graue Tageslicht verblasste bereits, und über dem Kanal trieben Nebelschwaden.
    Tsing stand fröstelnd neben dem Wassertor und schaute seinem Herrn nach, während dieser schweigend die Gondel vorwärtsstakte und sich mit jeder Ruderbewegung weiter von dem alten Palazzo entfernte.
    Ohne zu zögern, setzte sie sich in Bewegung und rannte los. Wenn sie sich beeilte, konnte sie ihm über Land den Weg abschneiden und ihn hinter der übernächsten Kanalbiegung aufhalten. Zwei Häuser weiter führte eine schmale Gasse zuerst über eine Brücke und dann durch einen engen Campiello, von dem aus sich eine weitere Gasse unter einem Sottoportego hindurchwand, hinter dem wieder Wasser war. Dort würde sie ihn abfangen.
    Aus den Augenwinkeln sah sie Tsings glattes Gesicht, als sie an ihm vorbeilief. Er wirkte erstaunt, doch er machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Als guter Söldner hielt er sich an die Anweisungen seines Herrn, und diese lauteten, dass unter keinen Umständen die Kinder der Familie unbewacht bleiben durften.
    Mit rasendem Puls rannte sie zwischen den Nachbarhäusern hindurch und bewegte sich auf die Brücke zu.
    Ich schaffe es, dachte sie mit tödlicher Entschlossenheit. Ich halte dich auf! Ich lasse dich nicht fort! Du bleibst bei mir, und sei es auch als mein Bruder!
    Doch schon nach dem nächsten Schritt wurde ihr klar, dass sie ihn nicht mehr erreichen würde. Nie mehr.
    Ein harter Arm kam wie aus dem Nichts und

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