Die Mächte des Feuers
Erkers, um das Goldene Dach zu erreichen; in ihren Gürteln steckten kurze, schwere Hämmer. Gäbe es ein besseres Zeichen gegen die Obrigkeit als ein Akt gegen eines ihrer Symbole?
»Ich gehe voran«, verkündete Grigorij.
»Nein, Fürst«, hielt Silena ihn zurück. »Mit Verlaub, Sie und Madame Sàtra tragen Kleider, die Sie als Angehörige des gehobenen Standes ausweisen. Damit gehören Sie in den Augen des Mobs eher zum Feind als zum Freund.« Sie schob sich an ihm vorbei. »Lassen Sie mir den Vortritt.« Sie setzte sich in Bewegung und schob sich mitten in die Menge, schlüpfte in sie hinein und schlängelte sich geschickt vorwärts. Alle zwei Meter blieb sie stehen und sah sich nach den Übrigen um, ob sie ihr folgten. Es war, wie durch zähen, schweren Teer zu schwimmen. Als sie sich ungefähr in der Mitte des Platzes befanden, vernahm Silena einen spitzen Schrei. Natürlich stammte er von der Französin. »Donne-moi mon portemonnaie, cretin!«, keifte sie einen Mann an. »Tout de suite!«
Die Umstehenden lachten, einer machte eine Bemerkung über ihre weißen Haare und die Kleidung, ein zweiter entdeckte den gut angezogenen Fürsten hinter ihr. Zwei Fremdkörper inmitten der Rebellen und ein willkommenes Ventil für den angestauten Hass; die Gebärden wurden drohender.
»He, nein! Weg da!«, rief Silena und drängelte sich zurück – oder versuchte es zumindest. »Lassen Sie die Finger von der Frau. Sie gehört zu mir.«
Niemand kümmerte sich um ihre Erklärungsversuche. Grigorij musste einem ersten Faustschlag ausweichen und stieß den Angreifer mit seinem Spazierstock zurück, doch sofort sprang ein neuer Gegner herbei, um den Fürsten zu attackieren.
In diesem Durcheinander hatten die Kletterer die unterste Kante des Goldenen Dachls erreicht, zückten die Hämmer und schlugen damit auf die blattgoldverkleideten Ziegel ein. Klirrend barsten sie, die Trümmer fielen auf den Platz, wo sie auf dem Kopfsteinpflaster zu noch kleineren Stücken zerschellten. Jetzt war der Jubel unbeschreiblich, es wurde auf Serbisch gerufen und gesungen, und irgendwo in der Mitte des Pulks spielte eine Kapelle einen Marsch.
Das war zu viel für den Befehlshaber der Gardisten. Ein Befehl wurde gebrüllt, daraufhin erschallte eine einzelne Trompete, und die Husaren rückten in einer breiten Front vorwärts. Sie drängten die Menschen einfach ab, alles Sträuben und Lärmen brachte nichts. Da flog ein aus der Straße gerissener Stein und traf einen der Berittenen unterhalb der Helmkante gegen das Auge; sofort sank er aus dem Sattel und verschwand aus Silenas Blickfeld.
»Sàtra, Zadornov!«, schrie sie und versuchte, die Hand der Französin zu ergreifen, um sie mit sich zu ziehen. Es ging nicht mehr darum, die Herrengasse zu erreichen, sondern so rasch wie möglich den Platz zu verlassen. Gleich würde es zu einer blutigen Auseinandersetzung kommen. »Hier rüber, nach rechts!«
Ein zweites Signal ertönte, und die ersten Schüsse erklangen. Die Salve war zur Warnung in die Luft gefeuert worden, während die Kavallerie mit den Lanzenstielen nach den Demonstranten schlug und erste Wunden an Köpfen und in Gesichtern klafften. Die Kapelle hatte aufgehört zu spielen, noch mehr Steine wurden gegen die Soldaten geschleudert.
Zadornov verpasste einem Mann einen Kinnhaken und nickte. »Wir schlagen uns zur Herrengasse durch, Großmeisterin«, brüllte er. »Das hier hat keinen Sinn.« Er zog Arsenie mit sich.
Dann wurde der Druck der Masse einfach unwiderstehlich groß. Silena trieb es davon, aus dem zähen Teer war ein rasch strömender Fluss geworden, gegen den es keinen Widerstand gab.
Als sich die Menge an einer Hausecke brach und aufteilte, wählte Silena die engere Gasse, in die weniger Demonstranten flüchteten. Hinter ihr erklangen schnelle Schussfolgen, die Soldaten hatten das Feuer eröffnet.
»Mister Skelton?« Silena reckte den Kopf, sie sah den Detektiv nirgends. Eine Suche ergab keinen Sinn, und so hoffte sie einfach, dass er es bis zur Herrengasse schaffte, ohne ein Opfer des Mobs oder einer Kugel zu werden.
Männer und Frauen hetzten an ihr vorbei, die Schilder unter den Armen. Plötzlich wurden sie langsamer: Vor ihnen, an der Einmündung zu einer breiteren Straße, hatte sich ein weiterer Trupp Husaren aufgestellt und blockierte mit den Pferdeleibern ein Durchkommen. Schon senkten sie die Speere und trabten locker an. Die Demonstranten kehrten um.
Silena verharrte wie der Fels in der Brandung, überlegte
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