Die Maechtigen
Worte vom gestrigen Abend rekapituliere, schweifen meine Gedanken ein paar Jahre zurück. Damals gab das Archiv die gesamten Personalakten des OSS frei, einem Vorläufer der CIA. Historiker hatten geschätzt, dass während des Zweiten Weltkrieges ungefähr sechstausend Menschen für die Behörde spioniert hatten. Als die Akten dann geöffnet wurden, stellte sich heraus, dass es tatsächlich vierundzwanzigtausend zuvor unbekannte Spione waren. Zu ihnen gehörte Julia Child, Richterin des Supreme Court, Arthur Goldberg und ein Fänger der Chicago White Sox.
Der OSS existierte insgesamt drei Jahre. Glaubt man Dallas, besteht der Culperring schon seit zweihundert Jahren.
Als Totte auf seinen Parkplatz fährt, werfe ich einen Blick über die Schulter zur Auffahrt der Garage. Der Wachmann mit den blendend weißen Zähnen beobachtet uns immer noch. Und lächelt. Dallas hat nichts davon gesagt, es nicht einmal auch nur angedeutet, aber ich müsste ein Narr sein, wenn ich nicht allmählich argwöhnen würde, dass der Einfluss des Culperrings viel weiter reicht, als ich je für möglich gehalten habe.
»Sieh mal, wer heute noch zu Besuch kommt«, flüstert Totte und klettert mühsam aus seinem Mustang. Ich stoße die Wagentür auf und sehe es jetzt auch: Vor der Metalltür, durch die man von der Tiefgarage ins Innere des Gebäudes kommt, stehen zwei Männer in schwarzem Kampfanzug mit Gewehren. Secret Service.
Aus Tottes Miene schließe ich, dass er keine Ahnung hat, warum sie hier sind.
»Glaubst du, Wallace kommt wieder?«, flüstert er.
»Das macht er ganz sicher.«
Er sieht mich verblüfft an. »Woher weißt du?«
Ich atme tief durch, was ich irgendwie schon den ganzen Morgen gemacht habe. Es ist eine Sache, auf Nummer sicher zu gehen und Informationen zu sammeln, ohne Dallas und den Culperring zu erwähnen. Aber ich kann Totte nicht verheimlichen, dass ich den Präsidenten treffen werde … Denn das wird er ohnehin herausfinden …
»Ich bin ihm für heute zugeteilt.« Ich schlage die Autotür zu und marschiere auf die Secret-Service-Beamten zu.
Totte humpelt hinter mir her. Er hütet sich, mir jetzt eine Szene zu machen. Aber als wir unsere Ausweise zücken und den Jungs vom Secret Service zunicken, spüre ich, dass er stocksauer ist.
Er sagt jedoch nichts, bis wir im Fahrstuhl sind.
»Seit wann weißt du es?«, faucht er, kaum dass sich die Tür geschlossen hat und wir hinauf in unsere Büros fahren.
»Seit gestern Abend. Sie haben mir eine E-Mail geschickt.«
Er nimmt mich mit einem Blick seines guten Auges förmlich auseinander. Ich weiß, was er denkt.
»Ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen«, setze ich hinzu, als der Fahrstuhl abbremst und auf unserem Stockwerk hält. »Aber als du diese Sache mit Dr. Palmiotti angesprochen hast … Wer weiß, vielleicht ist es ganz gut, wenn ich mit dem Präsidenten allein bin. Vielleicht macht er mir ja ein Angebot oder so etwas.«
»Er macht dir ein Angebot? Wer hat dich denn auf so eine blöde Idee gebracht?«
»Es könnte doch sein«, beharre ich, während ich darüber nachdenke, was Dallas gestern Abend gesagt hat. Was im SCIF geschehen ist, beruht auf einer Angelegenheit zwischen dem Präsidenten und einem Mitarbeiter des Archivs oder zumindest jemandem, der Zugang zu diesem Raum hat.
Totte schüttelt den Kopf und tritt aus dem Fahrstuhl in den vierten Stock. Ich bin direkt hinter ihm, aber als Totte die Tür unseres Großraumbüros aufreißt und ich ihm folge, bemerke ich eine flüchtige Bewegung rechts von mir.
Wie ein Springteufel taucht ein Kopf über den Arbeitsplätzen am anderen Ende auf und verschwindet dann im Hauptgang. An der Mona-Lisa-Frisur erkenne ich sofort Rina, aber was mich überrascht … Sie war in meinem Verschlag.
»Was tun Sie da?« Mir fällt etwas spät auf, dass ich sie fast anschreie.
Rina steht im Gang und wirbelt jetzt herum. »Was? Ich?«
»Sie haben mich genau verstanden …!« Ich biege im Eiltempo um die Ecke.
Sofort tauchen drei weitere Köpfe über den Stellwänden auf. Einer von ihnen ist Dallas. Offenbar wollen sie alle wissen, was hier vorgeht.
Rina ist völlig entgeistert und steht wie angewurzelt da.
Mein Arbeitsplatz liegt direkt neben Rinas, doch als ich jetzt durch den Hauptgang laufe, sehe ich, dass Rina vor ihrem Verschlag steht, nicht vor meinem.
»Was habe ich denn getan?«, will sie wissen. »Was ist denn los?«
Verwirrt trete ich zurück. Ich überlege kurz. Habe ich mich geirrt? Nein, ich
Weitere Kostenlose Bücher