Die Maechtigen
ich. »Er war am Tag vor Hiroshima hier.«
»Das stimmt«, sagt Totte. »Und du wirst nicht glauben, wo er vorher gewesen ist.«
39. Kapitel
»Okay, geh noch einmal dreißig Jahre zurück«, sagt Totte. »1915 … zwei Tage bevor die Lusitania angegriffen und versenkt wurde.«
»Durch diese Geschichte sind wir in den Ersten Weltkrieg hineingezogen worden«, erkläre ich Clementine, die immer noch einen verwirrten Eindruck macht.
»Dann 1908, in der Woche als das T-Modell vorgestellt wurde«, sagt Totte und blättert einen Stapel Fotokopien durch. Seine Stimme klingt lebhaft. »Irgendwelche Daten, nach denen nichts Besonderes passiert ist. Aber ich habe sogar einen Besuch festgestellt, zwei Tage bevor sie die US-Münze auf den Entwurf von Abraham Lincoln umgestellt haben.«
»Wie bist du darauf …?« Ich unterbreche mich. »Das ist unmöglich. Er kann nicht hier gewesen sein.«
»Das stimmt«, meint Totte.
»Wie … wieso nicht?«, fragt Clementine.
»Das Nationalarchiv existierte damals noch gar nicht«, erkläre ich. »Das Archiv wurde 1934 gegründet, und die Belegschaft ist erst 1935 eingezogen.«
»Aber wir haben Glück, denn die Kongress-Bibliothek macht seit 1800 Bücher zugänglich«, erklärt Totte. »Ich habe ein paar Freunde dort angerufen, und wenn man bedenkt, dass es die größte Bibliothek der Welt ist, kann es kaum überraschen, zu erfahren, dass auch sie einige Exemplare des Don Quichotte besitzen.«
»Also schon bevor das Nationalarchiv gegründet wurde …«
»… ist ein Mr. D. Gyrich aufgetaucht und hat sich alte Bücher ausgeliehen, die zufälligerweise einmal im Besitz von General George Washington gewesen waren. Aber das wahre Wunder ist sein unvergleichliches Timing: Drei Tage vor dem Massaker am Wounded Knee, sechs Tage vor der Schlacht von Gettysburg, sie sind noch auf der Suche, aber sie haben schon den 4. Juli 1826 gefunden, als die früheren Präsidenten Jefferson und Adams beide innerhalb weniger Stunden am Unabhängigkeitstag gestorben sind.«
»Er kommt mir vor wie ein böser Forrest Gump«, erkläre ich.
»Du tust so, als wäre es ein und dieselbe Person, die da seit 1826 herumspukt«, erwidert Totte. »Nichts für ungut, aber Vampirgeschichten sind allmählich wirklich ein bisschen abgegriffen.«
»Du denkst also, es handelt sich um mehr als eine Person?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber soll ich glauben, ein ganzer Haufen Leute hätte diesen Namen grundlos all die Jahre benutzt? Immerhin sind wir hier in einem Gebäude, in dem die größten Geheimnisse der Regierung aufbewahrt und konserviert werden. Also: Ja, Beecher, ich glaube an die Existenz dieses besonderen Osterhasen. Die Frage ist allerdings …«
»Sie kommunizieren miteinander«, platzt Clementine heraus.
Totte und ich drehen uns um. Sie sitzt an dem staubigen Tisch und blättert in dem Stapel von Fotokopien, den Totte mitgebracht hat.
»Sie reden dadurch miteinander«, wiederholt sie. »Sie kommen her und benutzen dafür die Bücher. So hat George Washington mit seiner Gruppe von Geheimagenten kommuniziert. So hat mein Va…« Sie unterbricht sich. »Denk an das, was Nico gesagt hat.«
»Du hast mit Nico gesprochen?«, erkundigt sich Totte bei mir. »Was hat er gesagt? Hat er etwas davon gewusst? Was kann er überhaupt davon wissen?«
Das sind eine Menge Fragen. Und sie sind berechtigt. Allerdings überrascht es mich etwas, mit welcher Intensität Totte sie stellt.
»Beecher, erzähl mir, was er gesagt hat.«
»Das mache ich schon, aber darf ich dich zuerst etwas fragen?«
»Du hast gesagt, Nico …«
»Nur eine Frage, Totte. Bitte«, beharre ich. Ich will mich nicht unterbrechen lassen. »Gestern, bevor Orlando getötet wurde …« Ich atme tief durch. Gut, und jetzt raus damit, bevor ich meine Meinung ändere. »Ich war in Orlandos Büro und habe die Anrufliste seines Telefons überprüft. Warum hast du Orlando ausgerechnet an dem Tag angerufen, als er gestorben ist?«
Clementines Kopf ruckt von den Papieren auf. Totte erstarrt einen Augenblick, aber genauso schnell erholt er sich. Seine Miene verändert sich, und er lacht, so sehr, dass sein blindes Auge unter seinen Falten fast verschwindet.
»Du bist gut, Beecher. Du bist wirklich gut«, meint er und streicht sich wieder durch den Bart. »Ich habe dir geraten, niemandem zu trauen. Und wie ich sehe, hältst du dich daran.«
»Totte …«
»Nein, schon gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist okay, Beecher. Es ist schlau von
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