Die Mädchenwiese
Augen.
»Ingrid, hast du verstanden, was ich gesagt habe?«
»Ja«, sagte meine Mutter, aber es klang, als antwortete eine Fremde. Seit unserer Rückkehr vom Friedhof kauerte sie in der Küche und bewegte sich nicht von ihrem Platz. Selbst das Trauerkleid klebte ihr noch auf der Haut. Auf den Dielen unter ihrem Schemel hatte das Regenwasser eine Pfütze gebildet.
Gerne hätte ich ihr geholfen, sie in den Arm genommen, ihr etwas Tröstliches ins Ohr geflüstert. Aber mir fehlten die Worte. Mir fehlte die Kraft. Vor allem fehlte mir mein Vater.
In der Nacht fand ich keinen Schlaf und wälzte mich unruhig in meinem Bett herum, bis ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Es war kurz vor fünf. Als ich mich aufraffte, um meiner Mutter in der Bäckerei zu helfen, saß sie bereits wieder am Küchentisch, das Kinn auf die Hände gestützt, den Blick auf die Kratzer im Holz gerichtet. So vergingen Wochen.
Anfangs kamen die Nachbarn regelmäßig vorbei und boten ihre Hilfe an.
Die Leute aus dem Dorf beknieten sie, die Bäckerei wieder zu öffnen, und lobten ihren Pflaumen-Prasselkuchen. Aber es war, als erreichten die Worte sie nicht. Vielleicht wollte sie sie auch gar nicht hören. Schon bald ließen die Besuche nach, da Mutter ohnehin nur schweigend in der Küche hockte oder den Gästen die Tür nicht mehr öffnete. Sie verbrachte den Großteil des Tages im Bett, mit verriegelten Fenstern, geschlossenen Vorhängen, in stickiger Luft, in Einsamkeit. An manchen Tagen klagte sie über Migräne, an anderen über Schmerzen in den Gelenken. Und abends weinte sie sich in den Schlaf.
»Ingrid«, mahnte mein Onkel jeden Mittag, wenn er nach ihr sah, »du darfst dich nicht hängen lassen! Hast du gehört?«
Jedes Mal blieb sie ihm die Antwort schuldig, vergrub sich nur noch tiefer unter ihre Decke.
Eines Abends riss Rudolf der Geduldsfaden. »Jetzt komm aus dem Bett!«
Als sie sich von ihm wegdrehte, griff er nach ihrem Arm. »Und kümmere dich um den Haushalt.«
»Lass mich«, zischte sie. Es waren ihre ersten Worte seit Tagen.
Er zog sie von der Matratze. »Einen Teufel werde ich.«
»Verschwinde!«, schrie sie und wand sich aus seiner Umklammerung. Ihre Hand traf seine Nase. Es knackte.
Fassungslos betrachtete mein Onkel das Blut, das auf sein Hemd tropfte. Langsam hob er den Blick und sah meine Mutter an.
»Also gut«, sagte er mit erstickter Stimme, »wenn ich hier nicht erwünscht bin …« Wütend stapfte er zur Tür hinaus. Im Flur blieb er vor mir stehen und sah mich traurig an. Ich bat ihn darum, es sich noch einmal zu überlegen. Doch er eilte aus dem Haus.
Meine Mutter zog die Decke wieder bis ans Kinn und starrte an die Wand.
Mit Mühe und Not brachte ich unsere Tiere über den Winter. Vater hätte es so gewollt , sagte ich mir jeden Tag aufs Neue, während ich mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett quälte, verschlafen hinüber in den Stall ging und die Tiere versorgte. Danach bereitete ich das Frühstück für mich und meine Mutter zu und fuhr mit dem Fahrrad durch die Eiseskälte in die Schule. Mittags hastete ich heim, um alles andere zu erledigen: Einkäufe, Wäsche, die Arbeit in Garten und Stall.
Mein Freund Harald war mir eine große Hilfe. Immer wenn er neben seiner Malerlehre Zeit fand, half er mir am Nachmittag mit den Tieren. Sicherlich war er bisweilen betrübt darüber, dass ich ihm nicht das geben konnte, was er sich von einer Freundin erhoffte. In den seltenen Momenten, in denen ich meine Trauer einmal vergaß, sank ich vor Erschöpfung aufs Sofa und schlief sofort in Haralds Armen ein. Doch er war geduldig wie mein Vater. Niemals machte Harald mir einen Vorwurf. Gerade das lernte ich an ihm schätzen.
Kurz vor Neujahr versagte uns der Wasserboiler seinen Dienst. Im Wohnzimmer fiel die Heizung aus, und Schimmel wucherte in den Ecken. Weil die beiden morschen Balken im Stall nicht ausgebessert worden waren, brach im Februar das Dach unter der Schneelast zusammen. Und im Gänseverschlag klaffte ein großes Loch, verursacht durch einen Fuchs, der eine Gans gerissen hatte.
Ich glaube nicht, dass meine Mutter registrierte, wie unser Haus und Vaters Bäckerei verfielen. Sie registrierte nicht einmal, was aus ihr selbst wurde. Das Frühstück, das ich ihr ans Bett brachte, rührte sie kaum an. Ebenso verhielt es sich mit dem Abendessen, das ich herrichtete. Nicht einmal vom Schmorbraten, den sie früher so gerne gekocht hatte, wollte sie mehr als ein paar Bissen zu sich nehmen.
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