Die Mädchenwiese
schauen.«
»Musst du nicht zur Arbeit?«
Frank winkte ab. Er rief im Polizeipräsidium an und gab Bescheid, dass er später kommen würde. Anschließend informierte er seine Frau Renate. Auf ihre Frage, ob sie vorbeikommen solle, entgegnete er: »Fahr du erst einmal zur Arbeit. Ich bin überzeugt, wir finden einen Partyflyer oder etwas Ähnliches. Dann wissen wir, wo Lisa ihr Wochenende verbracht hat und warum sie noch nicht zu Hause ist. Da bin ich mir sicher.«
Mit neuem Mut folgte Laura ihm die Treppe hinauf in Lisas Zimmer.
Sam schlug den Simpsons-Comic zu. Er hatte die Geschichte bereits vor ein paar Wochen im Jugendclub gelesen, fand sie aber immer noch spannend. Sie handelte davon, dass Bart Simpson sich nachts von zu Hause fortschlich und mit seinen Freunden einen Radiosender betrieb, der die Geheimnisse der erwachsenen Stadtbewohner preisgab.
Die Vorstellung, auch die Leute in Finkenwerda mit einer solchen Aktion zu schockieren, faszinierte Sam. Allerdings hatte er nicht einmal einen richtigen Freund, der ihm dabei helfen könnte. Und eine gehörige Portion Mut gehörte auch dazu.
Sam beobachtete, wie ein Fisch an die Oberfläche sprang und zurück in den Kanal tauchte. Irgendwo schrie ein Vogel. Vielleicht war es ein Kormoran. Neuerdings, so hatte Sams Biologielehrer erzählt und Bilder eines großen Vogels mit schwarzem Gefieder und großem Schnabel gezeigt, gäbe es Kormorane auch wieder im Spreewald.
Sam selbst hatte noch keinen erblickt, obwohl er viel Zeit im Wald verbrachte. Er genoss das Alleinsein auf seiner Wiese. Wenn er die Tiere schreien hörte, stellte er sich vor, wie er durch den Wald streifte und spannende Abenteuer erlebte, so wie Harry Potter, über den er alle Bücher gelesen hatte.
Die anderen Jungen in seiner Klasse hatten nicht viel übrig für Bücher oder Abenteuer im Wald. Sie spielten irgendwelche Handy- oder Computerspiele. Battlefield oder Rift . Einige von Sams Klassenkameraden brachten sogar ihre PlayStation Portable mit in die Schule, um dort in den Unterrichtspausen gegeneinander anzutreten. Sams Mutter hatte kein Geld für derlei Geräte. Als Lisa sich beschwert hatte, weil sie zum Geburtstag kein iPhone bekommen hatte, sondern nur ein schlichtes Nokia mit Tasten, hatte Sam erklärt, er fände das nicht schlimm.
»Glaub’ ich nicht«, hatte seine Schwester geantwortet.
»Doch«, hatte Sam beharrt. Er spielte tatsächlich lieber Mensch-ärgere-Dich-nicht und Mikado oder mit den alten Holzfiguren seiner Mutter, die in staubigen Kisten im Keller lagerten. Auf diese Weise musste er nicht tun, was die Programme auf den Handys oder iPhones ihm vorgaben, sondern konnte stattdessen eigene Abenteuer erleben.
»Das redest du dir nur ein«, hatte Lisa geantwortet.
»Tu ich nicht.«
»So was nennt man eine Alibiausrede.«
Er hatte nicht verstanden, was sie damit meinte, aber er wusste, dass sie unrecht hatte. Er hörte wieder die Stimme seiner Mutter, als sie ihn gefragt hatte: Sam, hast du eine Ahnung, wo Lisa am Wochenende war?
Natürlich hatte er das. Zwar wusste er nichts Genaues, aber … Er hatte seiner Schwester versprochen, niemandem etwas zu erzählen. Daran wollte er sich halten. Er wollte, dass Lisa stolz auf ihn war, wenigstens einmal. Dass sie nicht mehr über ihn lachte. Und dass sie wieder mehr Zeit mit ihm verbrachte.
Er schnippte einen Käfer weg, der über seine Hose krabbelte. Sein Magen knurrte, deswegen packte er eines der beiden Sandwiches aus. Es war trocken und schmeckte nach nichts. Die Butterbrote seiner Mutter waren ihm lieber – aber sie hatte nur selten Zeit, ihm welche zu schmieren. Er sah auf die Armbanduhr und stieß einen Seufzer aus. Eineinhalb Stunden waren vergangen. Erneut hatte er den Bus verpasst. Der Unterricht wäre schon fast vorbei, wenn er mit dem nächsten Bus in der Schule einträfe. Er beschloss, nach Hause zu gehen.
Er hoffte, dort auf Lisa zu treffen. Sie könnten gemeinsam eine DVD gucken oder sich etwas zu essen machen. Sam aß für sein Leben gerne Pfannkuchen. Allein bei dem Gedanken daran begann sein Magen noch lauter zu knurren. Und wenn er seiner Schwester sagte, dass er ihr kleines Geheimnis für sich behalten hatte, vielleicht machte sie ihm dann sogar Pfannkuchen.
Kapitel 7
»Das Leben geht weiter«, erklärte Onkel Rudolf noch am Abend der Beerdigung.
Meine Mutter schwieg.
»Eduard …«, sagte er.
Sie zuckte zusammen.
»… er hätte es so gewollt!«
Tränen verschleierten ihre
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