Die Mädchenwiese
zu tun. Und wenn mal wieder jemand ausfällt, umso mehr.«
»Es tut mir leid, aber …«
»Nein«, unterbrach er sie schroff, »nein, nein, Ihre Entschuldigungen ziehen nicht mehr. Und um ganz ehrlich zu sein, das Beste wäre, Sie nehmen Ihren Resturlaub und dann …«
»Herr Arnold, bitte, ich brauche den Job.« Laura verabscheute den flehentlichen Tonfall, der sich in ihre Stimme schlich, aber sie war auf das Geld angewiesen. »Bitte.«
»Nein, beim besten Willen, Sie wissen, ich bin nur Abteilungsleiter, und wenn ich nicht dafür sorge, dass jeder Call-Agent fünfundachtzig Anrufe pro Tag schafft, kriege ich Druck von oben. Ich muss auch an mich selbst denken. Das verstehen Sie doch, oder?«
Laura hatte durchaus Verständnis. Doch er musste auch ihre Situation verstehen. »Meine Tochter ist verschwunden.«
»Ach, Frau Theis«, seufzte er, »mal ist es Ihr Haus, dann Ihr Sohn, mal Ihre Migräne, mal Ihr Mann. Was denn noch?«
Sie stieg in den Golf, schaltete die Freisprechanlage ein und startete den Motor. Sie hasste sich für ihre kommenden Worte, aber etwas anderes fiel ihr nicht ein. »Und wie war das damals bei Ihrer Tochter?«
»Also bitte!« Ihr Chef klang entrüstet. »Fangen Sie jetzt nicht damit an.«
»Sie ist zu den Großeltern gefahren. Mit dem Bus. Ohne dass sie Ihnen oder Ihrer Frau Bescheid gegeben hat. Sie war den ganzen Nachmittag unterwegs. Haben Sie sich keine Sorgen gemacht?«
»Natürlich, sie war ja erst sechs. Aber Ihre Tochter ist siebzehn.«
»Sechzehn!« Laura drückte das Gaspedal durch. »Und Sie wissen, was einem Mädchen in diesem Alter …« Sie brach ab. Nein, das wollte sie nicht aussprechen. Daran wollte sie nicht einmal denken!
Auch ihr Chef schwieg.
»Also gut«, räumte er schließlich ein, »heute drücke ich noch mal ein Auge zu. Aber es ist das letzte Mal. Morgen sitzen Sie wieder an Ihrem Platz, und zwar pünktlich. Haben Sie verstanden?«
»Danke!«, antwortete Laura erleichtert. Während sie zurück nach Finkenwerda fuhr, beschloss sie, das Entgegenkommen ihres Chefs als gutes Zeichen zu werten. Ja, bestimmt war Lisa mittlerweile heimgekehrt, verkatert nach einer Party, wartete reumütig auf ihre Mutter und –
Wem machst du eigentlich was vor? , schalt Laura sich in Gedanken.
Als sie den Wagen in der Einfahrt ihres Schwagers parkte, trat Frank aus dem Haus. Laura lief zu ihrem Grundstück und steckte den Schlüssel ins Türschloss.
»Laura, alles in Ordnung?«
Sie drehte sich zu ihrem Schwager um. Frank war von stämmiger Statur und überragte sie um einen ganzen Kopf. Er trug einen blauen Jogginganzug, der ihm zu kurz war. Doch am auffälligsten waren sein dichtes, schwarzes Haar und die Augenbrauen, die seinem Gesicht einen düsteren Ausdruck verliehen.
»Ich …« Laura schluckte schwer. »… ich kann Lisa nicht finden.«
»Wie? Nicht finden?«
Laura floh in die Küche, als könnte sie auf diese Weise der Antwort entkommen. Sie sank auf einen der Stühle, stand wieder auf und ging unruhig auf und ab, während sie ihrem Schwager berichtete, was geschehen war.
Frank nahm am Küchentisch Platz und zupfte an seinen Augenbrauen herum. Er sprach erst, nachdem sie ihre Ausführungen beendet hatte. »Nun, Lisa ist jetzt sechzehn und …«
»Ja, und? Glaubst du, das habe ich vergessen?« Laura bereute ihren harschen Tonfall. »Entschuldige, Frank, aber …«
Ihr Handy klingelte erneut. Sie stürzte auf den Apparat zu. »Lisa?«
Während Nirvana aus den Boxen dröhnte, ging Alex den Korridor entlang in den hinteren Teil des Gebäudes. Am Flurende befanden sich vier Türen, die zu den Toiletten, zum Vorratskeller und in die Wohnung führten. Alex stieß die Tür auf, die in den Garten führte.
Gizmo sprang kläffend hinaus. Im Schatten hoher Fichten wälzte er sich im Gras. Alex sah ihm eine Weile amüsiert zu. Dann begab er sich in den Keller und wuchtete ein Bierfass die Stufen hoch in die Kneipe. Einige Sekunden herrschte Ruhe, weil die CD zum nächsten Song übersprang.
»Alex!«, rief Paul aus dem Garten. Gizmo bellte.
Alex reagierte nicht, sondern ging erneut in den Keller und trug ein zweites Fass in den Schankraum. Die körperliche Anstrengung trieb ihm den Schweiß ins Gesicht, aber zusammen mit den Gitarrenriffs von In Bloom vertrieb sie den letzten Groll. Er konnte nicht mehr wütend auf Paul sein.
Sein Freund, der in Köpenick aufgewachsen war, hatte viele Jahre als Redakteur für die Rundschau , eine Stadtteilzeitung, geschrieben,
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