Die Mädchenwiese
Früher war sie klein und schmächtig, aber trotzdem hübsch gewesen. Seit dem Tod meines Vaters glich sie immer mehr einem Gespenst.
Mir kamen die Tränen, wenn ich sie in ihrem Elend dahinsiechen sah. Mir wurde bewusst, dass ich kurz davor war, all das zu verlieren, was mir wichtig gewesen war: meine Familie, das Haus und die Bäckerei. Und ich konnte nichts dagegen tun.
Es schnürte mir die Kehle zu, als an einem der ersten Frühlingsnachmittage – ich kehrte gerade von der Schule heim – eine Stimme aus dem oberen Stockwerk unseres Hauses drang. Ich warf achtlos meinen Tornister in den Flur und stürzte die Stufen hinauf. In Gedanken ging ich sämtliche Möglichkeiten durch: War der Arzt bei meiner Mutter? Die Polizei? Oder, daran wollte ich nicht denken, der Bestatter? Mit zitternden Händen öffnete ich die Tür.
Kapitel 8
Alex’ Garten glich einem Trümmerfeld. Die Stauden waren aus der Erde gerissen und die Gurken zertreten.
Alex fluchte. »Verdammte Wildschweine!«
Immer öfter wagten sich die Tiere in die Ortsmitte vor. Vor kurzem hatte er nachts bei einer seiner späten Runden mit Gizmo sogar mitten auf dem Dorfplatz eine Rotte gesichtet.
»Schweine knacken aber keine Tür.« Paul wies zur Gartenhütte. Deren Holztür war aus den Angeln gehoben. »Wohl eher deine Kids.«
»Meine Kids?«
»Die du am Wochenende aus der Elster schmeißen musstest. Du hast erzählt, dass sie angetrunken waren und Alkohol wollten. Du hast ihnen keinen gegeben, die haben gepöbelt und … siehste!«
Alex grummelte verstimmt.
»Also ich würde mir das mit dem Geld für den Jugendclub an deiner Stelle überlegen«, fügte Paul hinzu.
Einen Teil der Einnahmen, die er durch den Verkauf des Gurkenrezepts an Fielmeister’s Beste erzielen würde, wollte Alex für die Renovierung der Elster verwenden und mit dem restlichen Geld Ben und den Jugendclub unterstützen. Vorausgesetzt, es kommt überhaupt zu der Verköstigung.
Eine böse Ahnung stieg in ihm auf. »Scheiße!«
Im Schuppen bot sich der gleiche Anblick wie im Garten. Zertretene Gurken lagen in zersplitterten Einmachgläsern. »Das war fast mein kompletter Vorrat für die Verköstigung.«
Paul räusperte sich. »Ein seltsamer Zufall, findest du nicht?«
Alex stieß geräuschvoll die Luft aus.
»Oder Bauer Schulze?«
Ohne Rücksicht auf Scherben und Gurkenbrei stapfte Alex ins Freie. Obwohl die Sonne noch schien, lag der Garten bereits im Schatten. Gizmo schleppte einen Ast heran, legte ihn vor Alex’ Füßen ab und bellte.
Alex schleuderte den Stock über die Wiese. Wie der Blitz schoss der Retriever hinterher.
»Und?«, fragte Paul. »Glaubst du, er war’s, Bauer Schulze?«
Ruprecht Schulze war schon in der DDR ein wohlhabender Landwirt gewesen. Nach der Wende konnte er seine Ländereien noch um ein Vielfaches erweitern und sich außerdem zum Ortsvorstand aufschwingen. Inzwischen erzielte er einen Großteil seines Umsatzes mit dem Vertrieb von Spreewaldgurken. Auch er war mit Fielmeister’s Beste im Gespräch.
»Es würde kein gutes Licht auf ihn werfen«, sagte Alex.
Paul lachte. »Schulze wird schon dafür gesorgt haben, dass keinerlei Licht auf ihn fällt. Was anderes ist man von Leuten wie ihm ja nicht gewohnt.«
Gizmo ließ den Ast vor Alex fallen und bellte. Alex warf den Stock, und der Retriever stürmte in Richtung der verwüsteten Gemüsefelder. In diesem Zustand sah der Garten fast so aus wie vor zwanzig Jahren, als Alex mit seinen Eltern –
Meinen Eltern? Ach, verdammt!
Für einen kurzen Moment hatte er den Brief ganz vergessen. Und jetzt, da dessen verstörender Inhalt wieder in sein Bewusstsein drang, war er sich nicht im Klaren darüber, ob es nicht die bessere Lösung war, den Brief einfach aus dem Gedächtnis zu streichen. Er hatte andere Probleme. Welche Probleme denn? Etwa ein ruiniertes Gurkenbeet?
»Alex, alles klar?«, fragte Paul.
»Mir geht’s gut«, versicherte Alex, auch wenn sich ihm der Magen zusammenkrampfte.
Wie um alles in der Welt sollen wir in diesem Chaos etwas finden? , dachte Laura mit wachsender Verzweiflung, während sie das Durcheinander in Lisas Zimmer betrachtete.
Ihren Schwager schien die Unordnung nicht zu stören. Er ging zum Schreibtisch und wühlte sich durch Bücher und Hefter, die sich vor dem PC -Monitor stapelten. Besondere Aufmerksamkeit widmete er den Flyern, Einladungen zu Geburtstagspartys, Schul- oder Abi-Feiern. Auf einigen wurden auch Berliner Diskotheken mit ausgefallenen Namen
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