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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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mir bewusst, dass ich kein Auto vor unserem Haus hatte parken sehen. Mir stockte der Atem. Nur langsam wagte ich mich über die Türschwelle in den dunklen Raum. Das Dielenlicht glitt über das Krankenbett und über meinen Onkel. Erleichtert schnappte ich nach Luft.
    Onkel Rudolf sah mich kurz an, bevor er sich wieder über meine Mutter beugte.
    »Ingrid«, sagte er, »das geht so nicht weiter.«
    Sie reagierte nicht.
    »Was soll aus dem Grundstück werden? Und aus der Bäckerei?«
    Sie schwieg.
    »Denkst du nicht an deine Tochter?«
    Endlich wandte sie ihm ihr Gesicht zu und sah ihn an, bevor sie wieder zurückfiel in ihren Dämmerzustand.
    Ich war so dankbar, dass er da war, dass ich mich gar nicht fragte, was ihn dazu bewogen hatte, meine Mutter aufzusuchen.
    Noch am selben Abend besprach er sich mit seiner Frau, Tante Hilde, und schon am darauffolgenden Tag begann er, unser Haus zu renovieren. Als Erstes reparierte er den Badezimmerboiler. Ich war außer mir vor Freude, als ich endlich wieder in den Genuss einer warmen Dusche kam.
    Anfangs kam mein Onkel nur zwei- oder dreimal die Woche bei uns vorbei. Er tauschte den Heizkörper im Wohnzimmer aus, verputzte und tapezierte die Wände neu. Er flickte den Gänsezaun und setzte das Stalldach instand. Während er dort zimmerte, strich meine Mutter die Vorhänge im Schlafzimmer beiseite. Argwöhnisch beäugte sie den Trubel auf unserem Grundstück.
    Einen halben Monat darauf gab mein Onkel seine Arbeit auf. Er brachte unsere Bäckerei auf Vordermann und lud schon bald die Leute im Dorf zu einer Neueröffnung ein. Zu Beginn ging vieles schief, und auch die Brötchen schmeckten anders als zu Vaters Zeiten. Doch Onkel Rudolf gab nicht auf. Manche Nächte schlief er in unserem Gästezimmer, nur damit er am folgenden Tag keine Zeit durch die Herfahrt verlor. Und jeden Morgen, bevor er die Tür zur Backstube aufschloss, redete er auf meine Mutter ein, damit sie ihm das Rezept für ihre Torten und Kuchen verriet.
    Eines Abends trat mein Onkel aus Mutters Schlafzimmer und schwenkte einen beschriebenen Zettel. Sie hatte mit ihm geredet, und zwar mehr als nur ein oder zwei grimmige Worte.
    Das Herz zersprang mir beinahe vor Freude.
    »Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich mein Onkel an einem der ersten sonnigen Tage im Mai.
    »Ja, ja«, entgegnete ich und trieb die Kühe in den Stall. Ich war wieder einmal zu spät, weil Harald mir mittags noch seine neueste Errungenschaft vorgeführt hatte – eine Kassette mit Aufnahmen aus dem Westradio. Radio Luxemburg .
    »Also.« Mein Onkel räusperte sich. »Du kannst es mir ruhig sagen …«
    »Doch, doch …«
    »… denn dafür bin ich schließlich da.«
    »… alles ist in Ordnung«, versicherte ich, und das war nicht gelogen.
    So schmerzlich der Verlust meines Vaters auch gewesen war, inzwischen hatte ich begriffen: Indem es uns gelang, sein Vermächtnis, die Bäckerei, unser Haus und die Familie, zu bewahren, würde er für uns immer lebendig bleiben. Dieses Wissen gab mir Mut und Kraft für den Alltag und mein Leben. Ich plante, mit meiner Freundin Regina ins Pionierlager zu fahren, und ab und zu ließ ich mich von Harald auch wieder zum Tanz ausführen.
    »Und Ingrid?«, fragte mein Onkel. »Deine Mutter?«
    Mittlerweile waren mein Onkel und Tante Hilde zu uns ins Haus gezogen. Ich hatte den Eindruck, ihre Gesellschaft tat meiner Mutter gut. Zwar klagte sie nach wie vor über Schmerzen im Kopf und in den Gliedern, aber sie begann wieder zu essen und half gemeinsam mit meiner Tante in der Backstube aus.
    »Es geht ihr besser«, erklärte ich.
    »Ja.« Mein Onkel lächelte zufrieden. »Das glaube ich auch.«
    Mit einem Mal überrollte mich eine Welle der Dankbarkeit. Es war das Verdienst meines Onkels, dass ein Jahr nach dem Tod meines Vaters so etwas wie Normalität in unser Leben eingekehrt war.
    Einige Tage nach meiner Jugendweihe saß ich mit Harald auf der Bank am Dorfplatz. Dort trafen wir uns manchmal abends, fütterten die Enten und lauschten händchenhaltend dem Brunnenplätschern. Als wir an jenem Abend zaghafte Küsse tauschten, spürte ich ein angenehmes Kribbeln in der Magengrube. Mir wurde klar, wie viel mir mein Freund inzwischen bedeutete, und ich fragte mich: Was wäre, wenn wir beide heirateten? Wenn wir Vaters Bäckerei übernähmen? In unserem Haus lebten? Kinder bekämen?
    Im selben Moment schnürte es mir das Herz zusammen, denn mein Vater würde niemals erleben, wie sein innigster Wunsch in

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