Die Mädchenwiese
bis ihm deren Herausgeberin gekündigt hatte, vorgeblich aus wirtschaftlichen Gründen. Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass Pauls Posten nur wenige Wochen danach mit der Schwägerin der Herausgeberin besetzt worden war. Ein Dreivierteljahr darauf hatte Pauls Frau ihn mit den gemeinsamen drei Kindern verlassen. Norman war sein Anwalt gewesen, hatte aber nicht verhindern können, dass bei der Scheidung schmutzige Wäsche gewaschen wurde. Viel war Paul danach nicht mehr geblieben, nur eine Mietwohnung in Köpenick, ein rostroter Peugeot und das verbissene Bemühen, zumindest noch einmal etwas Anständiges auf die Beine zu stellen: eine exklusive Story, einen Bestseller – oder seinen Freunden zu helfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen.
»Alex!«, rief Paul erneut.
Alex schloss die vollen Fässer an die Zapfanlage an, anschließend schleppte er die leeren Fässer hinunter in den Keller. Nach vollbrachter Arbeit verspürte er sogar wieder Hunger. Er entnahm dem Einmachglas eine Gurke. Ihr Geschmack war würzig, mit einem Hauch von Pfeffer, Salz, Senf, Majoran, einer Prise Curry und zwei geheimen Zutaten, die bis heute nur drei Menschen kannten – er und … die beiden Menschen, die er bis vor kurzem für seine Eltern gehalten hatte.
Alex griff nach dem Hörer des alten Telefonapparats. Mit der anderen Hand entfaltete er den Brief. Arthur Steinmann, Harnackstraße 18, Berlin . Er war im Begriff, die angegebene Nummer zu wählen, doch er hielt in der Bewegung inne.
Er hatte eine glückliche Kindheit verlebt, und auch eine unbeschwerte Jugend. Was spielte es für eine Rolle, dass die beiden Personen, die er als seinen Vater und seine Mutter kannte, nicht seine leiblichen Eltern waren?
»Alex!«, rief Paul. »Jetzt komm endlich raus!«
Alex legte den Hörer zurück auf die Gabel und schob das Schreiben wieder in die Gesäßtasche. Der nachdrückliche Tonfall seines Freundes trieb ihn hinaus in den Garten. Paul stand inmitten der Reste des Gemüsebeets.
Eine Welle der Enttäuschung überrollte Laura, als eine männliche Stimme aus dem Handy tönte.
»Laura, Liebes, ich bin’s, Patrick.«
Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. »Hallo, Patrick.«
»Laura, Liebes, was ist los? Der Chef hat gesagt, du kommst heute nicht. Er meinte, irgendwas ist mit deiner Tochter. Geht es ihr gut?«
»Patrick, sei mir nicht böse, aber …«
»Nein, ich bin dir nicht böse. Ich wollte nur hören, ob alles in Ordnung ist. Und ob es trotzdem bei heute Abend bleibt?«
»Heute Abend?«
»Na, unser gemütlicher Abend. Seit dem letzten sind fast zwei Wochen vergangen.«
»Ach so, ja, nein, also …« Ein trauter Abend zu zweit war momentan das Letzte, wonach Laura sich sehnte. »Ich meld’ mich später bei dir, okay?«
»Klar, Laura, Liebes, kein Problem.« Falls ihre Antwort ihn enttäuscht hatte, ließ er es sich nicht anmerken. »Ruf einfach an, sobald du den Kopf wieder frei hast. Hab’ dich lieb.«
Laura legte auf.
»Dein Freund?«, fragte ihr Schwager. Er lächelte, wohl um sie zu beruhigen.
Laura nickte kurz. »Tut mir leid wegen gerade eben.«
»Halb so wild.«
»Aber … so langsam mache ich mir wirklich Sorgen.«
»Das verstehe ich, aber …« Frank fuhr sich über die Augenbrauen. »Du weißt, wie Lisa ist. Sie hat ihren eigenen Kopf. Ganz wie die Mutter.« Er lächelte erneut.
»Nein, das würde Lisa nicht machen. Eine kleine Notlüge, ja, aber das ganze Wochenende? Und dann auch noch die Schule schwänzen?«
»Du hast gerade selbst gesagt, dass sie nicht zum ersten Mal dem Unterricht ferngeblieben ist.« Ihr Schwager beugte sich vor und legte seine Hand auf ihren Arm. »Überleg doch mal, heute ist Montag. Wahrscheinlich hat sie das Wochenende durchgemacht, irgendeine Party, du weißt schon, laute Musik, Alkohol, das, worauf Kids in ihrem Alter eben stehen. Völlig normal. Und heute quält sie ein Kater, und nachher steht sie wie ein Häufchen Elend in der Tür.«
Laura nickte. Daran hatte sie auch schon gedacht. Und sie wollte es nur zu gerne glauben. »Aber was, wenn nicht?«
Ihr Schwager zog die Hand zurück.
»Was, wenn …« Sie stockte. »Wenn ihr etwas passiert ist?« Sie hielt ihren Blick auf Frank gerichtet. Ihr fiel das kreisförmige Emblem auf, das in Brusthöhe auf seiner Joggingjacke saß. Das Signet der Polizeigewerkschaft. Ihr Schwager war Kripobeamter. Gerade er sollte doch wissen …
»Na komm!« Er stand auf und ging in die Diele. »Lass uns mal
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